28.10.77

Die Vertreibung aus dem Paradies (Niklaus Schilling, 1977)

Nach dem Tod der Mutter kehrt Filmschauspieler Andy Pauls (Geburtsname: Anton Paulisch) abgebrannt in seine Geburtsstadt München zurück. Mit der großen Karriere hat es weder in Rom noch in Hollywood geklappt; über Nebenrollen in Italowestern und einen TV-Auftritt als »Mechanical Man« ist Andy Pauls nie hinausgekommen. Herb Andress (Geburtsname: Herbert Andreas Greuz), mit dessen großer Karriere es auch nicht so recht geklappt hat, der sich als Nebendarsteller in Italowestern verdingte und als »Mechanical Man« im Fernsehen auftrat, spielt Andy Pauls, dem statt des erhofften Geldes als Erbe lediglich eine dickgerahmte Reproduktion von Gustave Dorés Bibelgraphik »Die Vertreibung aus dem Paradies« zufällt … Niklaus Schilling erzählt in einer Abfolge von kurzen, mal ironischen, mal elegischen, bald zugespitzt sketchartigen, bald opernhaft surrealen Szenen aus dem Leben der Vertriebenen – neben Andy Pauls sind das dessen sanftmütige Schwester Astrid (Elke Haltaufderheide), die sich redlich müht, das verschuldete mütterliche Fotogeschäft weiterzuführen, und der schmierige Bankfilialleiter Berens und die mondäne Heiratsschwindlerin Isolde Gräfin zu Rosenburg und das allzeitbereite Starlet Evi. Die Personen der Handlung verwickeln sich in eine inszestuöse Liebesgeschichte und in eine gallige Satire auf den mausetoten bundesdeutschen Filmbetrieb und in ein schwüles Hochstapler(innen)drama und in einen kleinbürgerlichen Betrugsthriller. Auf allen Ebenen geht es um Geld und Träume, um Kunst und Wirklichkeit, um Spiel und Zwang. Am Ende weist ein Engel den Weg zurück ins Paradies; die Insel der Seligen aber ist nichts anderes als das Kino selbst.

R Niklaus Schilling B Niklaus Schilling K Igor Luther M Giuseppe Verdi, Gaetano Donizetti, Drupi A Christa Molitor S Niklaus Schilling P Elke Haltaufderheide D Herb Andress, Elke Haltaufderheide, Jochen Busse, Ksenija Protic, Andrea Rau | BRD | 119 min | 1:1,66 | f | 28. Oktober 1977

# 774 | 19. September 2013  

The Serpent’s Egg (Ingmar Bergman, 1977)

Das Schlangenei 

»Go to hell!« – »Where do you think we are?« Ingmar Bergman schickt Dr. Mabuse ins Cabaret. »The scene is Berlin, the evening of Saturday, November 3, 1923.« Abel Rosenberg (mit versoffener Klarheit: John Carradine), Jude, Amerikaner, abgetakelter Trapezartist, stromert nach dem Selbstmord seines Bruders durch das Inflationschaos der Reichshauptstadt. Seine Exschwägerin, die Tingeltangeldiseuse und Gelegenheitsnutte Manuela (mit grüner Lockenperücke: Liv Ullmann), und der Arzt und (Menschen-)Forscher Dr. Hans Vergérus (mit gefährlich-randloser Brille: Heinz Bennent), ein geheimnisvoll-unheimlicher Bekannter aus sonnigen Jugendjahren, kreuzen Abels Wege durch das irdische Jammertal. Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und die Ahnung von der kommenden großen Katastrophe ziehen wie giftige Nebelschwaden durch die Seelen der Menschen – und durch die Straßen der Stadt, in die sich ein Sturzbach von übel zugerichteten Leichen ergießt, allesamt Opfer unverständlicher Gräueltaten: Verbrechen, die der aufrechte Inspektor Bauer (Gert Fröbe), seiner preußischen Beamtenpflicht folgend, mit trübsinniger Hartnäckigkeit aufzuklären versucht … Bergman, von schwedischen Steuerbürokraten ins Münchner Exil getrieben, inszeniert, fern der Heimat, in einer der grandiosesten jemals in Deutschland errichteten Filmarchitekturen (Rolf Zehetbauer), einmal mehr eine Vision der Hölle auf Erden – eine Gesellschaft in Auflösung, Menschen in Angst, Körper in Qualen – und einen poetisch-politischen rückblickenden Ausblick auf den (aus der Furcht und dem Entsetzen der von Gott verlassenen Kreaturen) heraufsteigenden Faschismus: »I wake up from a nightmare and find that real life is worse than the dream.«

R Ingmar Bergman B Ingmar Bergman K Sven Nykvist M Rolf A. Wilhelm A Rolf Zehetbauer S Jutta Hering P Dino De Laurentiis D Liv Ullmann, David Carradine, Gert Fröbe, Heinz Bennent, James Whitmore | USA & BRD | 120 min | 1:1,66 | f | 28. Oktober 1977

5.10.77

L’animal (Claude Zidi, 1977)

Ein irrer Typ

Hyperaktive Zappelkomödie mit Jean-Paul Belmondo in einer Doppelrolle als tollkühner Stuntman Mike Gaucher und effeminierter Megastar Bruno Ferrari. »L’animal« pfeift fröhlich auf die psychologischen Möglichkeiten dieser Konstellation, bietet stattdessen dem Hauptdarsteller zahlreiche Gelegenheiten, seine Physis zu präsentieren. Die unegale Handlung begnügt sich mit umwerfend plumpen Klischees, zeigt das Filmgeschäft als liebenswert geistlose Kulissenwelt, in der rohe Kräfte sinnlos walten, als wilden Zoo voller großer und kleiner Idioten, die, jeder auf seine Art, in ihren Käfigen verrückt spielen. Claude Zidi ist sich für keinen Kalauer zu schade, setzt ganz auf brachialen Körperwitz, exploitiert genüßlich jedes Stereotyp: Der Produzent schreit, der Regisseur hat keinen Plan, der Schwule trägt ein rosa Rüschenhemd, die schöne Widerspenstige (Raquel Welch) wird gezähmt, der Kaskadeur nimmt jede Hürde. Mit der Wirklichkeit (des Gewerbes) hat das nicht viel zu tun. Aber wen interessiert (im Kino) schon die Wirklichkeit?

R Claude Zidi B Michel Audiard, Dominique Fabre, Claude Zidi K Claude Renoir M Vladimir Cosma A Théo Meurisse S Robert Isnardon, Monique Isnardon P Christian Fechner D Jean-Paul Belmondo, Raquel Welch, Charles Gérard, Julien Guiomar, Aldo Maccione | F | 100 min | 1:2,35 | f | 5. Oktober 1977

Valentino (Ken Russell, 1977)

Valentino

»To my public, I will never die!« Sanft lächelnd liegt die geschminkte Leiche der Leinwandikone im Sarg: Rudolph Valentino ist tot – und damit unsterblich. In Citizen-Kane-Manier wirft Ken Russell aus der Aufbahrungshalle Rückblicke in die turbulente Vergangenheit des entschlafenen Kinogottes – auffälligerweise sind es nur Frauen, die wichtige Stationen seiner Vita in Erinnerung rufen: eine frühe Geliebte und eine hellwache Drehbuchautorin, eine exaltierte Schauspielerin und die hochambitiöse Ehefrau entsinnen sich an Valentinos Zeiten als Gigolo und als Nachtclubtänzer, als Kleindarsteller in Hollywood und als sexsymbolische Weltberühmtheit. Valentino (Rudolf Nurejew) geht durch dieses sein Leben seltsam reglos, wie eine Puppe am Faden – lediglich der öffentliche Zweifel an seiner Männlichkeit (was auch immer das sein soll) bringen ihn in eine Rage, die letztlich den frühen Tod befördert. Trotz treffender Seitenhiebe auf Traumfabrik (»Every day is Halloween in Tinseltown.«), Starkult (»YOU – are the fount of all pleasure.«), Sexismus (»We hate him now / he uses talcum powder.«) zeigt Russels Methode der grellen Überzeichnung biographischer Sachverhalte gewisse Ermüdungstendenzen; entfesselte Massenchoreographien, wüste Art-Deco-Reminiszenzen, outrierte Darstellerleistungen (all over the top: Leslie Caron als Alla Nazimowa) verleihen dem pop-erotischen Schauspielerportrait immerhin den soliden Unterhaltungswert einer Beerdigung erster Klasse.

R Ken Russell B Ken Russell, Mardik Martin V Chaw Mank, Brad Steiger K Peter Suschitzky M Stanley Black A Philip Harrison S Stuart Baird P Irwin Winkler, Robert Chartoff D Rudolf Nurejew, Michelle Phillips, Felicity Kendal, Leslie Caron, Seymour Cassel | USA & UK | 128 min | 1:1,85 | f | 5. Oktober 1977

# 1144 | 13. Januar 2019