5.9.66

Abschied von gestern (Alexander Kluge, 1966)

»Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage.« Der ziellose Weg einer jungen Frau durch die Bundesrepublik: Anita G., jüdischer Herkunft, Zonenflüchtling, ohne festen Wohnsitz, lebt aus dem Koffer, sucht eine Perspektive, will Anschluß und Austausch, eckt jedoch ständig an, bleibt außen vor, rutscht ab. Die filmische Aufbereitung ihres »Falls«, vorgetragen als fragmentarisches Protokoll, als ausschnitthafte Bewegungsstudie, als soziales Rollenspiel, erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit – Anita dient nicht als Exempel, sie bleibt Unikat. Alexander Kluge beobachtet allerdings, indem er sich seiner Zielperson an die Fersen heftet, ihr durch Hotels, Kaffeehäuser, Apartments, Universitäten, Gefängnisse folgt, eine Vielzahl von Situationen, die beispielhaft gesellschaftliche Gegebenheiten (Verdinglichung, Fremdbestimmung, Kontaktarmut) beschreiben; überhaupt ist der Autor ein begeisterter Sammler – von Gegenständen und Typen, von Zitaten und Momenten –, der aus seinen objets trouvés eine Art kinematographisches Fundbüro errichtet: »Abschied von gestern« gleicht einem assoziativen Depot des Alltags, ist hypothetisches Dokument und konkrete Fiktion westdeutscher Wirklichkeiten. Die Unbehaustheit der Protagonistin (≈ ihre dornige, allseits schief beäugte Freiheit) manifestiert sich dabei immer wieder in starken Bildern, etwa wenn die heimatlose Anita ihren Koffer über eine nicht enden wollende Brücke trägt, oder wenn sie ihre Morgentoilette am Ufer eines Flusses erledigt. PS: »Jeder ist an allem schuld, aber wenn das jeder wüßte, hätten wir das Paradies auf Erden.«

R Alexander Kluge B Alexander Kluge V Alexander Kluge K Edgar Reitz, Thomas Mauch M diverse S Beate Mainka-Jellinghaus P Alexander Kluge, Heinz Angermeyer D Alexandra Kluge, Hans Korte, Günther Mack, Werner Kreindl, Alfred Edel | BRD | 88 min | 1:1,37 | sw | 5. September 1966

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