7.7.75

Mutter Küsters’ Fahrt zum Himmel (Rainer Werner Fassbinder, 1975)

»Ich fühle mich so einsam, so von allen verlassen.« In gewisser Hinsicht wirkt Rainer Werner Fassbinders galliges Soziodrama (dessen Titel auf einen proletarischen Filmklassiker der späten 1920er Jahre anspielt) wie ein Gegenstück zum ein Jahr zuvor entstandenen »Faustrecht der Freiheit«: Ging der treuherzige Münchner Lottokönig Franz Bieberkopf daran zugrunde, sein Glück mit anderen Menschen teilen zu wollen, muß die Frankfurter Arbeiterwitwe Emma Küsters (Brigitte Mira) – deren von Entlassung bedrohter Ehemann einen Vorgesetzten umbrachte, bevor er sich selbst tötete –, hilflos erleben, wie ihr Unglück emotional übergangen, kommerziell ausgebeutet, politisch instrumentalisiert wird. Sohn und Schwiegertochter verlassen die gemeinsame Wohnung, ein vermeintlich mitfühlender Journalist schreibt einen hetzerischen Artikel, die Tochter nutzt den Skandal, um ihre Karriere als Sängerin zu befördern, Salonkommunisten schlachten die Affäre ideologisch aus, ein Trupp von Anarchisten benutzt den Fall als Vorwand für eine revolutionäre Aktion. Eine einmalige Galerie schwächlicher, gleichgültiger, berechnender Figuren veranschaulicht Fassbinders Argwohn gegenüber allen (insbesondere linken) Versprechungen auf gesellschaftliche Veränderung, während Mutter Küsters’ unbefangene Menschlichkeit unter den herrschenden Verhältnissen zu blinder Naivität gerinnt. Der unweigerlich traurige Ausgang der Erzählung wird lakonisch auf eingeblendeten Schrifttafeln verkündet. PS: Die amerikanische Fassung des Films endet unverhofft happy. Fauler Kompromiß? Beißende Satire? Höhere Ironie?

R Rainer Werner Fassbinder B Rainer Werner Fassbinder, Kurt Raab K Michael Ballhaus M Peer Raben A Kurt Raab S Thea Eymèsz P Rainer Werner Fassbinder D Brigitte Mira, Ingrid Caven, Karlheinz Böhm, Margit Carstensen, Irm Herrmann, Gottfried John | BRD | 120 min | 1:1,37 | f | 7. Juli 1975

# 1008 | 14. Juli 2016