26.12.73

The Exorcist (William Friedkin, 1973)

Der Exorzist

Trotz stellenweise eher belustigender als schockierender Effekte (Stichwort: grüne Kotze) bemerkenswerte Studie einer dämonischen Inbesitznahme und ihrer Austreibung – vor allem weil das Unbehagen an greifbaren Orten in einem präzise gezeichneten Alltag unter psychologisch stimmigen Figuren entwickelt wird. Wie kaum einem anderen Mainstream-Regisseur der 1970er Jahre gelingt es William Friedkin, in seinen (stets außerordentlich spannenden) Genre-Erzählungen die Erosionsprozesse der westlichen Gesellschaft – das heißt: den tiefen Fall aus dem goldenen Nachkriegszeitalter der Prosperität, Ordnung und Selbstgewißheit in eine Ära der politischen, wirtschaftlichen, sozialen (und in der Folge auch individuellen) Depression – bildhaft zu machen. In »The Exorcist« sind es in erster Linie Owen Roizmans naturalistische Kamera, die reduziert-wirkungsvolle Tongestaltung (Chris Newman und Buzz Knudson) und das affektive Spiel der Darsteller – Ellen Burstyn als empört-verstörte Mutter, Lee J. Cobb als analytisch-blinder Ermittler sowie Jason Miller als einfühlsam-schuldbeladener Priester ragen heraus –, die Angst und Verunsicherung unmittelbar spürbar werden lassen, während Linda Blair als junge Besessene und Max von Sydow als alter Teufelsbeschwörer zumeist stereotypisch agieren (müssen). »The Exorcist« (entstanden im Jahr von Ölkrise, Watergate und Chile-Putsch) akzeptiert die Existenz des Bösen in der Welt als Realität – eine Realität, deren Überwindung (wenn überhaupt) nur durch Glauben und Opfer möglich ist. Den einen mag dies als Beweis für den reaktionäre Standpunkt des Films dienen, anderen gilt es vielleicht als Indiz für seine revolutionäre Gesinnung.

R William Friedkin B William Peter Blatty V William Peter Blatty K Owen Roizman A Bill Malley S Norman Gay, Evan Lottman P William Peter Blatty D Ellen Burstyn, Max von Sydow, Lee J. Cobb, Jason Miller, Linda Blair | USA | 122 min | 1:1,85 | f | 26. Dezember 1973

13.12.73

Amarcord (Federico Fellini, 1973)

Amarcord

Frühling, Sommer, Herbst, Winter und wieder Frühling – Federico Fellini erinnert sich an ein fiktiv-exemplarisches Jahr seiner Jugend in einem italienischen Provinznest der 1930er Jahre: man zetert und zankt, man lacht und träumt, man schwitzt und friert, man geht ins Kino und schwärmt für Gary Cooper, man wichst und geht danach zur Beichte, man hebt den Arm zum faschistischen Gruß und läßt hinterrücks vom Grammophon die ›Internationale‹ erschallen, man legt die deutschen Touristinnen flach, man trägt die Toten zu Grabe, man heiratet, man liebt, man lebt … Im Zentrum steht eine archetypische Familie: cholerischer Vater, hysterische Mutter, verzogene Söhne, nassauernder Onkel, lustgreiser Opa; dazu treten: der siebengescheite Anwalt, die vollbusige Tabakhändlerin, der kurzsichtige Priester, die mondäne Friseuse, der verrückte Oheim, die läufige Nutte, der aufschneiderische Straßenhändler und und und … In »Amarcord« rückt Fellini sein Kino ganz nah an die Rhetorik der Musik: Melodien, Klangfarben, Rhythmen, Tempi, Harmonien, Dissonanzen, Leitmotive sind allemal wichtiger als die Systematik der Erzählung. Mit besinnlicher Phantasie und ironischem Enthusiasmus dirigiert der maestro eine fulminant-undisziplinierte Sinfonie der Kleinstadt in Dur und Moll.

R Federico Fellini B Federico Fellini, Tonino Guerra K Giuseppe Rotunno M Nino Rota A Danilo Donato S Ruggero Mastroiannni P Franco Cristaldi D Pupella Maggio, Armando Brancia, Magali Noël, Bruno Zanin, Ciccio Ingrassia | I & F | 123 min | 1:1,85 | f | 13. Dezember 1973

7.12.73

Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (Alexander Kluge, 1973)

»Roswitha fühlt in sich eine ungeheure Kraft, und sie weiß aus Filmen, daß es diese Kraft auch wirklich gibt.« Ein halbes Jahr aus dem Leben der Frankfurter Familie Bronski: der herrische Franz (Bion Steinborn) konzentriert sich aufs Zweitstudium, die umtriebige Roswitha (Alexandra Kluge) kümmert sich nicht nur um Haushalt und Kinder, mit einer Abtreibungspraxis kommt sie außerdem für den Unterhalt der Ihren auf. Nach dem zwangsweisen Ende der – in wertfreier Deutlichkeit gezeigten – illegalen Tätigkeit (aufgrund der Denunzierung durch eine Konkurrentin) wendet sich Roswitha gesellschaftspolitischen Aktivitäten zu, studiert Lebensbedingungen, hinterfragt Meinungsbildungsprozesse, kämpft gegen Unternehmerwillkür. Alexander Kluge zeichnet das facettenreiche Portrait einer Frau, die fest an die Möglichkeit von Veränderung in einer hermetischen Männerwelt glaubt, wenn sie auch – aufgrund einer gewissen aktionistischen Planlosigkeit – eher als Partisanin des Gefühls denn als methodische Bewußtseinsarbeiterin erscheint. Am Ende des sozialsatirischen Lehrstücks eröffnet die Protagonistin eine konspirative Imbißbude in unmittelbarer Nähe einer großen Fabrik. Der Werkschutz hält Roswithas Würste (aus Gründen) für eine Beeinträchtigung des Betriebsfriedens: »Irgendeinen Sinn muß das haben. Aber welchen?«

R Alexander Kluge B Alexander Kluge K Thomas Mauch M diverse S Beate Mainka-Jellinghaus P Alexander Kluge D Alexandra Kluge, Franz Bronski (= Bion Steinborn), Silvia Gartmann, Traugott Buhre, Alfred Edel | BRD | 91 min | 1:1,37 | sw | 7. Dezember 1973

# 1188 | 9. Januar 2020

23.11.73

Le magnifique (Philippe de Broca, 1973)

Der Teufelskerl

Comment détruire la réputation du plus célèbre agent secret du monde? … Die Zerstörung der Reputation des berühmtesten Geheimagenten der Welt – Bob Saint-Clar (mondän-machistisch: Jean-Paul Belmondo) – findet statt in der bescheidenen Wohnung des Pariser Pulp-Schriftstellers François Merlin (romantisch-verschlampt: Jean-Paul Belmondo), der im Auftrag eines schmierigen Schundverlegers (Vittorio Caprioli), umwölkt vom Rauch ungezählter Zigaretten, bereits 42 Abenteuer des umwerfenden Supermanns in seine klapprige Schreibmaschine gehackt hat … Philippe de Broca serviert einen Cocktail aus schrillbunter Actionfarce und zauberhafter Sozialburleske, ein amüsant-gewitztes Lust- und Frustspiel voller doppelter Erzählböden und fließender Übergänge zwischen Fiktion und Traum, Wille und Wahn: Immer wieder geraten dem zunehmend entnervten Zeilenschinder dichterische Erfindung und triste Wirklichkeit durcheinander, etwa wenn eine reale Putzfrau den Staubsauger plötzlich durch ein imaginiertes Feuergefecht am Strand von Mexiko schiebt, wenn sich der fiese Verlagsleiter in den mit allen Wassern der Bosheit gewaschenen albanischen Geheimdienstchef Karpov verwandelt, oder – in Sonderheit – wenn die von François heimlich angeschwärmte Studentin Christine (sexy-charmant: Jacqueline Bisset) zur rasanten Topspionin Tatiana (blasiert-betörend: Jacqueline Bisset) mutiert. Zum glücklichen Schluß läßt der Autor sein präpotentes Alter Ego genüßlich über die literarische Klinge springen – gleichermaßen ein Akt künstlerischer Emanzipation wie auch ein Abschied von virtualen Wunscherfüllungswelten.

R Philippe de Broca B Francis Veber, Jean-Paul Rappeneau, Philippe de Broca K René Mathelin M Claude Bolling A François de Lamothe S Henri Lanoë P Alexandre Mnouchkine, Georges Dancigers, Jean-Paul Belmondo D Jean-Paul Belmondo, Jacqueline Bisset, Vittorio Caprioli, Monique Tarbes, Hubert Deschamps | F & I | 93 min | 1:1,66 | f | 23. November 1973

# 1003 | 16. Mai 2016

15.11.73

Traumstadt (Johannes Schaaf, 1973)

»Flucht ist kein Ausweg.« Bundesdeutsche Gegenwart. Der Künstler Florian Sand (Per Oscarsson) sitzt im tiefen Loch einer Sinn- und Schaffenskrise, als ihn eine mysteriöse Offerte erreicht: Sein Schulfreund Klaus Patera lädt ihn ein, in die »Traumstadt« zu übersiedeln, einen Ort fernab der modernen Zivilisation, wo das Reich der absoluten Freiheit errichtet wurde. Zusammen mit seiner Frau Anna (Rosemarie Fendel), einer Börsenmaklerin, bricht Florian auf, reist durch felsige Wüstengegenden Zentralasiens, gelangt in ein biedermeierlich-mitteleuropäisch anmutendes Utopia – hier hat jeder Bürger das Recht, seine Individualität »unmittelbar und rein« zu verwirklichen, unter der Voraussetzung des völligen Respekts vor der Individualität des anderen, hier findet man das Domizil, das man sich immer schon wünschte, hier wird einem das Schnitzel serviert, bevor man sein Verlangen noch geäußert hat … Basierend auf dem einzigen Roman des visionären böhmischen Zeichners und Graphikers Alfred Kubin, inszeniert Johannes Schaaf einen Bilderstrom, der windungsreich vom Bizarr-Phantasmagorischen übers Panisch-Absurde ins Destruktiv-Apokalyptische flutet – Goya und Ensor, Buñuel und Fellini lassen grüßen. Pateras libertäre Wunschwelt (von Wilfried Minks genial als verplüscht-angestaubtes Puppenstuben-Shangri-La zwischen Trödelladen und Vorstadtkirmes ausgestattet) erweist sich schnell als geisttötender Alptraum ohne Ausweg: Totale Freiheit führt zur totalen Lähmung und mündet schließlich in totale Zerstörung. Auch der Film selbst nimmt sich (für den Betrachter nicht ganz unstrapaziös) das Recht zur bildwütigen Anarchie: Eine Fabel hängt lediglich fetzenhaft zwischen den Stationen dieses prunkvoll-assoziativen Happenings; es gelten die Gesetze der Décollage – bis nur noch ein schriller Schrei die Leinwand füllt.
R Johannes Schaaf B Johannes Schaaf, Rosemarie Fendel V Alfred Kubin K Gerard Vandenberg, Klaus König M Eberhard Schoener A Wilfried Minks S Russell Parker P Heinz Angermeyer D Per Oscarsson, Rosemarie Fendel, Eva Maria Meineke, Alexander May, Helen Vita | BRD | 124 min | 1:1,66 | f | 15. November 1973

19.10.73

The Way We Were (Sydney Pollack, 1973)

So wie wir waren | Cherrie Bitter

»I don’t see how you can do it.« – »And I don’t see how you can’t.« Die großen, die unvergeßlichen Liebesgeschichten sind in der Regel nicht jene, die gut ausgehen, nicht die Happily-ever-after-Romanzen aus dem Märchenbuch, es sind die bittersüß-aussichtlosen Erzählungen von feindlichen Umständen, von opfervollem Verzicht, von unauflöslichem Gegensatz: Tristan und Isolde, Rick und Ilsa, Hubbell Gardiner und Katie Morosky. Der immer lächelnde Neuengland-Beau (Robert Redford), dem alles – das Schreiben, die Liebe, das Leben – viel zu leicht fällt, und die jüdische Jungkommunistin (Barbra Streisand), die alles – die Politik, die Arbeit, das Leben – viel zu ernst nimmt, lernen sich Ende der 1930er Jahre während des Studiums kennen, treffen sich kurz vor Schluß des Zweiten Weltkriegs wieder, verlieben sich, trennen sich, finden aufs Neue zusammen, gehen gemeinsam von New York nach Hollywood, wo er seinen ersten Roman (»A Country Made of Ice Cream«) für die Leinwand adaptieren soll, werden von der Kommunistenhatz der beginnenden McCarthy-Ära endgültig entzweit – wo er, talentiert, lässig und flexibel, Menschen für wichtiger als ihre Prinzipien hält, ist sie, konsequent, engagiert und streitbar, davon überzeugt, daß Menschen ihre Prinzipien sind. Sydney Pollack inszeniert Arthur Laurents’ intelligentes Melodram mit unaufdringlichem nostalgischen Flair und leisen, aber unüberhörbaren politischen Untertönen; das kongeniale Spiel der Hauptdarsteller wahrt die Integrität der so unterschiedlichen Protagonisten, beschreibt einen schmerzlichen Dissens ohne Parteinahme, ohne Schuldzuweisung. PS: »Memories / Light the corners of my mind / Misty watercolor memories / Of the way we were.«

R Sydney Pollack B Arthur Laurents K Harry Stradling Jr. M Marvin Hamlish A Stephen B. Grimes S Margaret Booth P Ray Stark D Barbra Streisand, Robert Redford, Bradford Dillman, Lois Chiles, Patrick O’Neal, Viveca Lindfors | USA | 118 min | 1:2,35 | f | 19. Oktober 1973

# 1148 | 2. Februar 2019

18.10.73

Les aventures de Rabbi Jacob (Gérard Oury, 1973)

Die Abenteuer des Rabbi Jacob

»Une grimace et vous êtes mort!« Polternd-subtiles Kabinettstück des hysterischen Realismus: Louis de Funès als erzrassistisches Pariser Unternehmer-Arschloch, das (nicht zuletzt wegen seiner stupenden Borniertheit) in namenlose Schwierigkeiten gerät und, ungewollt begleitet von einem arabischen Volkstribun, in Maske und Kostüm eines New Yorker Rabbiners vor den Nachstellungen heimischer Polizisten sowie fremdländischer Geheimdienstler flüchtet. »Die Revolution«, sagte Che Guevara, »ist wie ein Fahrrad – wenn sie stehenbleibt, fällt sie um.« Gérard Oury überträgt dieses Diktum auf die pädagogisch-boulevardeske Filmkomödie: Ohne ihm eine Atempause zu gönnen, schickt er seinen fratzenschneidenden Protagonisten – durch eine blubbernde Kaugummifabrik und über das kurvenreiche Gepäckband des Flughafens Orly, durch eine rappelvolle Synagoge im Marais und über den nationalstolzen Hof des Invalidendoms – auf den Weg der Menschwerdung … Ein abenteuerliches Vaudeville über den schönen Traum von Religionsfrieden, Völkerverständigung und Zivilisierung, über eine bessere Welt, in der es keine Schande wäre, jüdisch oder nicht jüdisch zu sein: »Ça ne fait rien, on vous garde quand même!«

R Gérard Oury B Gérard Oury, Danièle Thompson, Josy Eisenberg K Henri Decaë M Vladimir Cosma A Théo Meurisse S Albert Jurgenson P Bertrand Javal D Louis de Funès, Claude Giraud, Marcel Dalio, Suzy Delair, Henri Guybet | F & I | 100 min | 1:1,66 | f | 18. Oktober 1973

16.10.73

Don’t Look Now (Nicolas Roeg, 1973)

Wenn die Gondeln Trauer tragen

»Nothing is what it seems.« Ein Kind ertrinkt beim Spielen. Der Tod der Tochter läßt die Eltern traumatisiert zurück. Im spätherbstlichen Venedig suchen Jack und Laura Baxter (Donald Sutherland und Julie Christie) nach einer Möglichkeit, ihren Schmerz zu bewältigen – doch aus den Kanälen der Lagunenstadt steigt die Erinnerung wie verhängnisvoller Nebel, durch den das gestorbene Mädchen zu spuken scheint … Nicolas Roeg löst die Geschichte des im Unglück verbundenen Ehepaares konsequent aus der chronologischen Ordnung: Die Zeit erweist sich als Irrgarten, gleich der Topographie des morbiden Schauplatzes, an dem sich Diesseits und Jenseits überschneiden. Wiederkehrende Motive, allesamt symbolisch aufgeladen – zerspringendes Glas, Spiegelungen im Wasser, Stürze und Ohnmachten, leuchtendes Rot –, schaffen Bezüge zwischen den Ebenen. In Venedig, wo Jack im Auftrag des Bischofs eine mittelalterliche Kirche restauriert, macht Laura die Bekanntschaft zweier sonderbarer Schwestern, deren eine – blind – mit dem zweiten Gesicht begabt (oder: bestraft) ist. Während Laura, fasziniert und unbefangen, den Kontakt zur anderen Seite sucht, reagiert Jack feindselig – vielleicht, weil er sich als Vernunftmensch die eigene Anlage zur außersinnlichen Wahrnehmung nicht eingestehen will … Ein parapsychologisches Melodram, ein metaphysischer Thriller über Ahnungen und Bedrohungen, über Warnungen und Täuschungen, ein experimenteller Genrefilm, der wie in Trance von Augenschein und Skepsis erzählt: »Seeing is believing.«

R Nicolas Roeg B Allen Scott, Chris Bryant V Daphne du Maurier K Anthony Richmond M Pino Donaggio A Giovanni Soccol S Graeme Clifford P Peter Katz D Donald Sutherland, Julie Christie, Hilary Mason, Clelia Matania, Massimo Serrato | UK & I | 110 min | 1:1,85 | f | 16. Oktober 1973

# 913 | 9. Oktober 2014

4.10.73

Gott schützt die Liebenden (Alfred Vohrer, 1973)

Wer kennt schon den anderen? Wer kennt schon sich selbst? Paul Holland (Harald Leipnitz) liebt Sybille Loredo (Gila von Weitershausen), macht ihr einen Heiratsantrag. Als Paul von einer Geschäftsreise nach Hause zurückkehrt, ist Sybille verschwunden, und als er sie wiederfindet, ist sie nicht mehr Sybille … Ein Drama des Mißtrauens und der Täuschung, ein Todesspiel der verwirrten Gefühle und der verwischten Identitäten: Sybille heißt eigentlich Viktoria Brunswick, war Undercover-Ermittlerin, angesetzt auf eine berüchtigte Familie von Drogenhändlern. Mamma Trenti residiert in einer nordspanischen Bergfestung, ihre drei Söhne erledigen das Tagesgeschäft. Viktoria verliebte sich in Emilio, den Jüngsten (Nino Castelnuovo), der auch der Liebling seiner Mutter ist und der Verlobte von Laura, die sich wiederum, von Emilio verlassen, in Anna verwandelt, äußerlich eine Hure mit Herz, innerlich ein Engel der Rache, bereit kaputtzumachen, was sie kaputtmachte … Nach und nach werden alle Beteiligten vom heißlaufenden Karussell der Doppelungen ins Aus geschleudert, während Alfred Vohrer, alle Handlungsfäden souverän in der Hand haltend, die ungemütlichen Abseiten von Berlin, Wien und Barcelona erkundet. Mit Glaubensfragen oder Religiosität hat der Film, anders als der Titel nahelegt, kaum etwas zu tun. Zwar versteckt sich Sybille/Viktoria auf ihrer Flucht vor der Vergangenheit vorübergehend in einem Nonnenkloster, aber Gott, macht Simmel glauben, schützt in dieser unseren Welt niemanden mehr. Er scheint nicht nur tot zu sein, mein könnte fast meinen, es habe ihn nie gegeben.

R Alfred Vohrer B Manfred Purzer V Johannes Mario Simmel K Charly Steinberger M Hans-Martin Majewski S Eva Kohlschein P Luggi Waldleitner D Harald Leipnitz, Gila von Weitershausen, Andrea Jonasson, Nino Castelnuovo, Walter Kohout | BRD & I & E | 105 min | 1:1,66 | f | 4. Oktober 1973

# 856 | 16. April 2014

20.9.73

L’emmerdeur (Edouard Molinaro, 1973)

Die Filzlaus

»On a toujours besoin d'un ami dans la vie.« Zwei Herren, Zimmernachbarn im fünften Stock eines südfranzösischen Mittelklassehotels: M. Pignon (Jacques Brel) wurde (wegen eines Psychiaters!) von seiner Frau verlassen und will sich darob das Leben nehmen, M. Milan (Lino Ventura) kennt keine Gefühle und hat einen tödlichen Job zu erledigen. Der Jammerlappen und der Profikiller werden von außergewöhlichen Umständen auf Gedeih und (insbesondere) Verderb aneinandergekettet. »L’emmerdeur« ist reines Schauspielerkino, vielmehr: Körperkino und Gesichterkino, kontrastiv und komparativ: der hypernervöse Schlacks und der massive Klotz, die aufgewühlte Pferdefresse und das gefrorene Steingesicht. Zwar benötigt Édouard Molinaro einen halben (kurzen) Film lang, um die Gegensätze effektiv in Stellung zu bringen, aber sobald es vollbracht ist, gibt es für Brel und Ventura kein kinematographisches Halten mehr. »Vous m'avez sauvé la vie. Je ne l'oublierai jamais.«

R Édouard Molinaro B Francis Veber V Francis Veber K Raoul Coutard M Jacques Brel, François Rauber A François de Lamothe S Monique Isnardon, Robert Isnardon P Jean Dancigers, Alexandre Mnouchkine D Lino Ventura, Jacques Brel, Nino Castelnuovo, Caroline Cellier, Jean-Pierre Darras | F & I | 85 min | 1:1,66 | f | 20. September 1973

# 850 | 15. März 2014

L’événement le plus important depuis que l’homme a marché sur la lune (Jacques Demy, 1973)

Die Umstandshose

Marco (Marcello Mastroianni), Inhaber einer Fahrschule, lebt glücklich und zufrieden mit seiner Freundin Irène (Catherine Deneuve), Besitzerin eines kleinen Friseursalons, und dem gemeinsamen Sohn im Pariser Stadtviertel Montparnasse. Geplagt von Kopfweh, Schwindel, Übelkeit (besonders arg während eines Mireille-Mathieu-Konzerts) begibt sich Marco zum Arzt. Diagnose: Monsieur ist im vierten Monat schwanger. Der behandelnde Gynäkologe ist entzückt, bestätigt der sensationelle Fall doch seine Theorie über die schleichende Veränderung des menschlichen Hormonhaushalts infolge von Ernährungsfehlern (zuviel Hühnchen!) und Umweltverschmutzung ... Jacques Demys (etwas phlegmatisch inszenierte) Alltagsburleske über das Kind im Manne verkehrt zwar die Geschlechterrollen, befaßt sich aber kaum mit der gesellschaftlichen oder beziehungstechnischen Bedeutung von Männlichkeit und Weiblichkeit (»le thème – comment dirais-je? – de la ›maternité masculine‹ ... ou de la ›paternité maternelle‹, si vous préférez«), wirft nur den einen oder anderen spöttischen Seitenblick auf die Reaktionen von Medien, Kommerz und Mitwelt auf das biologische Phänomen, ergeht sich lieber in quietschbuten Kulissen und im Herzeigen eines delikaten schlechten Geschmack (ein orange-brauner Schlafanzug für ihn, ein kobaltblauer Pelzmantel für sie) – dazu paßt das laue Ende der Erzählung, das alles wieder in die natürliche (?) Ordnung der Dinge zurückfinden läßt.

R Jacques Demy B Jacques Demy K Andréas Winding M Michel Legrand A Bernard Evein S Anne-Marie Cotret P Henri Baum D Marcello Mastoianni, Catherine Deneuve, Micheline Presle, Raymond Gérôme, Mireille Mathieu | F & I | 94 min | 1:1,66 | f | 20. September 1973

# 1123 | 5. Juni 2018

19.9.73

Charley Varrick (Don Siegel, 1973)

Der große Coup

»What’s bothering you?« – »I don’t know. Something smells bad.« Charley Varrick (einsilbig-beherrscht: Walter Matthau), einstmals Kunstflieger, inzwischen nicht sonderlich erfolgreich als selbständiger Sprühflugzeug-Pilot tätig, überfällt, um die klamme Kasse aufzubessern, mit Gattin Nadine und zwei weiteren Komplizen ein Provinzbankhaus in New Mexico. Das Unternehmen läuft aus dem Ruder: die Ehefrau und einer der Helfershelfer kommen ums Leben, Charley und sein Mittäter Harman Sullivan (fickrig-beschränkt: Andrew Robinson) haben unversehens eine dreiviertel Million Dollar erbeutet: Mafia-Schwarzgeld (»gambling money, whore money, dope money«), dessen Verlust die reizbaren Besitzer keinesfalls in Kauf zu nehmen gedenken. »All I wanted was a small take, in and out quick, no big deal«, sagt Varrick, stattdessen klebt ihm (und dem jungen Harman) nun ein beinharter Auftragskiller (Joe Don Baker als »Molly«) an den Hacken … Mit phänomenologischem Interesse (und nicht ohne sarkastischen Humor) verfolgt Don Siegel die Anstrengungen seines Protagonisten, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen; der lakonische Professionalismus (»You called it, kid.«) und die schier herzzerreißende Unsentimentalität (»Goodbye, Nadine.«), mit der Charley Varrick (»the last of the independents«) zu Werke geht, entsprechen dabei in vollkommener Weise der künstlerischen Haltung des Regisseurs.

R Don Siegel B Howard Rodman, Dean Riesner V John Reese K Michael Butler M Lalo Schifrin A Fernando Carrere S Frank Morriss P Don Siegel D Walter Matthau, Joe Don Baker, John Vernon, Andrew Robinson, Felicia Farr, Sheree North | USA | 111 min | 1:1,85 | f | 19. September 1973

# 1000 | 10. Mai 2016

13.9.73

Belle (André Delvaux, 1973)

»Connaître ou reconnaître …« Mathieu Grégoire (Jean-Luc Bideau), Archivar und Schriftsteller, Spezialist für Liebeslyrik des 16. Jahrhunderts, lebt mit Gattin und fast erwachsener Tochter im beschaulichen Ardennenstädtchen Spa. Eines Nachts, auf der Heimfahrt von einem Vortrag, fährt er im Wald einen Hund an, der verletzt in der Dunkelheit verschwindet. Am nächsten Tag kehrt Mathieu mit einem Jagdgewehr zurück, um das verwundete Tier zu erschießen. Auf seinem Streifzug entdeckt er eine verfallene Hütte, in der eine schöne Frau wohnt, die Mathieus Sprache nicht versteht … Die Situation erinnert an »Un soir, un train«: Wieder beschwört André Delvaux das Irren in spätherbstlicher Einsamkeit, die Unmöglichkeit von zwischenmenschlicher Verständigung. Doch mehr als der Vor(vor)gänger ist »Belle« das Portrait einer zauberisch-entrückten Landschaft. »Tant de tristesses plénières / prirent mon cœur aux fagnes désolées«, dichtete Guillaume Apollinaire über die Hautes Fagnes (das Hohe Venn) im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Das entlegene Hochmoor voller Sumpflöcher, überzogen von buschigem Heidekraut, düsterem Nadelgehölz, toten Bäumen und feuchtem Dunst, bildet den märchenhaften Schauplatz für die sich langsam steigernde seelische und erotische Konfusion des Protagonisten, der sich im gleichen Maße von Familie, Freunden und Beruf entfremdet, wie er der unbekannten, enigmatischen Fremden verfällt. Ist die Begegnung mit Belle ein Faktum? Oder eine Vision? Handelt es sich um eine Ausgeburt sexueller Verwirrung, um poetische Phantasie, um Wahnvorstellungen eines Mannes in der Mittlebenskrise, um den Einbruch von Wunschbildern in die Wirklichkeit? Wer ist der Andere, der unvermutet auftaucht? Ist er Belles Bruder, ihr Geliebter, ihr Komplize? Stirbt ein Hund? Oder ein Mensch? Ist das Leben ein Traum? Oder ein Film?

R André Delvaux B André Delvaux, Monique Rysselinck K Ghislain Cloquet M Frédéric Devreese A Claude Pignot S Emmanuelle Dupuis, Pierre Joassin P Jean-Claude Batz D Jean-Luc Bideau, Danièle Delorme, Adriana Bogdan, Roger Coggio, Stéphane Excoffier | B & F | 96 min | 1:1,66 | f | 13. September 1973

# 849 | 15. März 2014

7.8.73

Jesus Christ Superstar (Norman Jewison, 1973)

Jesus Christ Superstar

»One thing I’ll say for him – Jesus is cool.« Das Evangelium nach Andrew Lloyd Webber: die Passionsgeschichte als Mischung aus Hippie-Happening und »Top of the Pops«. Von Norman Jewison in stilisiert-authentischer Nahost-Kulisse mit allerlei schicken Verfremdungseffekten und Anachronismen (Panzer, Flugzeuge, Flower-Power-Klamotten) inszeniert, rückt die Rock-Oper neben dem nur kurzfristig an seiner Erlösungsmission zweifelnden Heiland (gottergeben-silberblickend: Ted Neeley) und den Liebesnöten der ehrbaren Dirne Maria Magdalena insbesondere die auf faszinierende Weise gebrochene Persönlichkeit des Verräters Judas Iskariot (finster-energievoll: Carl Anderson) in den Mittelpunkt des bekannten Geschehens. Ein tuckig-verfetteter Herodes (»Prove to me that you’re divine, / Change my water into wine.«), ein blasiert-larmoyanter Pilatus (»And then I heard them mentioning my name, / And leaving me the blame.«) sowie barbrüstige jüdische Hohepriester mit schwarzledernen Ballonhüten (»For the sake of the nation, / This Jesus must die.«) übernehmen die schurkischen Nebenrollen.

R Norman Jewison B Melvyn Bragg, Norman Jewison V Tim Rice K Douglas Slocombe M Andrew Lloyd Webber A Richard Macdonald S Antony Gibbs P Norman Jewison, Robert Stigwood D Ted Neeley, Carl Anderson, Yvonne Elliman, Barry Dennen, Bob Bingham, Josh Mostel | USA | 106 min | 1:2,35 | f | 7. August 1973

# 1167 | 1. August 2019

30.6.73

Kanashimi no Beradona (Eichi Yamamoto, 1973)

Die Tragödie der Belladonna

Es war einmal vor der Revolution … Jeanne und Jean leben in einem kleinen Dorf. Sie lieben sich. Immer schon. Sie heiraten. Dann nimmt der böse Fürst für sich (und die seinen, derer es viele sind) das Recht der ersten Nacht in Anspruch. Die große Liebe zerbricht. Jeanne verschreibt sich den Mächten des Bösen: Sie wird ›Belladonna‹. Eichi Yamamoto gestaltet ein psychedelisch-aufgesextes Anime der Sonder(bar)klasse – der Teufel sieht anfangs aus wie ein feixendes Kondom, um sich peu à peu in einen roten Riesenphallus zu verwandeln, der Jeanne (und den Film) zu immer neuen kuriosen Höhepunkten treibt –, einen spröde animierten, eklektizistischen, feurig-blutig-durchgeknallten Art-Nouveau-Tuschkasten mit Neigung zu wüstem Kitsch und künstlerischer Enthemmung auf hohem Niveau.

R Eichi Yamamoto B Yoshiyuki Fukuda, Eichi Yamamoto V Jules Michelet K Shigeru Yamazaki M Masahiko Sato A Kuni Fukai S Masashi Furukawa P Tadami Watanabe | JP | 93 min | 1:1,37 | f | 30. Juni 1973

27.6.73

Live and Let Die (Guy Hamilton, 1973)

James Bond 007 – Leben und sterben lassen

In seinem ersten Auftritt als Bond, James Bond verschlägt es Moore, Roger Moore nach Harlem, New Orleans und (mal wieder) in die Karibik. Auf der Jagd nach dem Superschurken Mr. Big (dessen zweites Ich Dr. Kananga als UN-Botschafter des Inselstaates San Monique (die heilige Monika: Schutzpatronin der Mütter, Frauen und somit auch Bondgirls) fungiert), gerät der britische Geheimagent in einen handfesten Blaxploitation-Voodoo-Zauber auf dem Subtilitätsniveau von »Tim im Kongo«. Nach der herrlich übergeschnappten Las-Vegas-Burlesque »Diamonds Are Forever« zügelt Guy Hamilton seinen Erfindungsreichtum und erdet das 007-Abenteuer durch Konzentration auf das (natürlich ironische) Zelebrieren der physischen Unwiderstehlichkeit des Protagonisten sowie auf die Inszenierung einiger wirkungsvoller Actionsequenzen (Höhepunkt: eine Speedboot-Verfolgungsjagd im Mississippi-Delta). Dazu paßt, daß sich Mr. Dr. Big Kananga (Yaphet Kotto) letztlich nicht als irrsinniger Welteroberer sondern nur als aufgeblasener Drogenbaron mit Tarot-Macke erweist.

R Guy Hamilton B Tom Mankiewicz V Ian Fleming K Ted Moore M George Martin A Syd Cain S Bert Bates, Raymond Poulton, John Shirley P Albert R. Broccoli, Harry Saltzman D Roger Moore, Yaphet Kotto, Jane Semour, Clifton James, Julius Harris | UK | 121 min | 1:1,66 | f | 27. Juni 1973

# 981 | 3. Dezember 2015

17.6.73

Blume in Love (Paul Mazursky, 1973)

Heirat ausgeschlossen

»To be in love with your ex-wife is a tragedy«, sagt Stephen Blume, Scheidungsanwalt aus Los Angeles (George Segal), der von seiner Ehefrau Nina (Susan Anspach) infolge eines Seitensprungs blitzgeschieden wurde, um schnell zu erkennen, daß er die Verflossene immer noch liebt. Paul Mazursky läßt seine ironische Charakterstudie, gleichermaßen Tragödie eines lächerlichen Mannes und dramatische Komödie der Verunsicherung, der Schuldgefühle, der Besessenheit in der romantischsten aller Kulissen beginnen: Auf der Piazza San Marco beobachtet Blume diverse Liebespaare, erinnert sich zu den Klängen eines Kaffeehausorchesters an die Flitterwochen, die er mit seiner Angetrauten einst in Venedig verbrachte, an Szenen ihrer Ehe, ihrer Entfremdung, ihres Getrenntseins. Während Nina mit dem lebensküstlerischen Musiker Elmo (Kris Kristofferson) anbandelt (den Blume so sympathisch findet, daß er ihm den Vollbart abguckt), gibt es für ihren selbstmitleidig-liebeskranken Exmann nur die Eine, die Einzige: »I will die if I don’t get her back. I don’t want to die. Therefore I have to get her back.« Gewürzt mit furiosen Kurzauftritten von Shelley Winters in der Rolle der hysterisch-rachedurstigen Gattin eines treulosen Psychiaters (»I want the money and the children. And I want the Jaguar!«), entwickelt Mazursky ein bemerkenswertes Update der comedy of remarriage (eines Subgenres der 1930er und -40er Jahre, das Klassiker wie »The Awful Truth« und »His Girl Friday« hervorbrachte) für die Ära von Selbstfindung, Yoga und sexueller Freiheit. Die Wiedervereinigung der Blumes durch eine unvermittelte Vergewaltigung mit anschließender Schwangerschaft setzt allerdings eine perverse Pointe, die das happy ending (dort, wo die Erzählung begann: auf dem Markusplatz – untermalt vom Liebestod-Thema aus »Tristan und Isolde«) zu einem der befremdlichsten seiner Art macht.

R Paul Mazursky B Paul Mazursky K Bruce Surtees M diverse A Pato Guzman S Don Cambern P Paul Mazursky D George Segal, Susan Anspach, Kris Kristofferson, Marsha Mason, Shelley Winters | USA | 115 min | 1:1,85 | f | 17. Juni 1973

# 1119 | 1. Juni 2018

14.6.73

The Last of Sheila (Herbert Ross, 1973)

Sheila

»There are gigantic themes here, worthy of Dostoyevsky. There’s innocence, guilt, hatred, loyalty.« Es beginnt mit einer Leiche am Straßenrand in Bel-Air, später fällt eine Leiche aus einem südfranzösischen Beichtstuhl, noch später liegt eine Leiche in der Badewanne an Bord einer Luxusyacht. Zwischen den Todesfällen wird gespielt – und wie! Kino als Kreuzworträtsel, als Charade, als kriminalistisches Puzzle. Als master of ceremonies figuriert ein Hollywood-Produzent (mit gebleckten Zähnen: James Coburn), der sechs Showbiz-»Freunde« zu einer Mittelmehrkreuzfahrt einlädt, um mit ihnen Katz und Maus zu spielen. Eine(r) von ihnen hat seine Frau Sheila (die erste Leiche) auf dem Gewissen (sofern Filmleute überhaupt eins haben) … Sechs Personen suchen (und finden) sich spielend selbst – Herbert Ross inszenierte diese hochintelligente und sehr witzige Studie über das Geheimnis (»That’s the thing about secrets. We all know stuff about each other. We just don’t know the same stuff.«) und die Abgründe des homo ludens mit viel Geschmack und Sinn für Details nach einem Drehbuch voller raffinierter hints and clues von Stephen »Isn’t it rich? Isn’t it queer?« Sondheim und Anthony »Mother! Oh God, mother! Blood! Blood!« Perkins – leider wird das erste Zusammenspiel der Gelegenheitsfilmautoren auch ihr letztes bleiben.

R Herbert Ross B Stephen Sondheim, Anthony Perkins K Gerry Turpin M Billy Goldenberg A Ken Adam S Edward Warschilka P Herbert Ross D Richard Benjamin, Dyan Cannon, James Coburn, Joan Hackett, James Mason | USA | 120 min | 1:1,85 | f | 14. Juni 1973

1.6.73

Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow (Siegfried Kühn, 1973)

»Was ist Klassenkampf?« – »Daß die Gleise in Ordnung sind und daß der Zug pünktlich fährt.« 57 Jahre alt ist Friedrich Wilhelm Georg Platow, 34 davon hat er als Schrankenwärter auf dem Bahnhof Luege verbracht. Die »Elektronifizierung« der Strecke beendet Platows beschauliches Leben, und der verschrobene Fahrdienstleiter beginnt – »auf ziemlich beispiellose Weise« – ein neues … Nach einem Drehbuch des Brecht-Adepten Helmut Baierl erzählt Siegfried Kühn eine tragikomische Antiheldensage aus den Wirren der wissenschaftlich-technischen Revolution, die den Protagonisten mit den Herausforderungen der »modernen Zeiten« (Fortschritt, Rationalisierung, Technokratie) konfrontiert. Durch die couragierte Zergliederung der dargelegten Biographie in gestalterisch disparate Kapitel (mit den Titeln »Lebenslauf«, »Testament«, »Tagebuch«, »Feuilleton«, »Reportage«), durch die eigentümliche Historisierung der Gegenwart (»die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts«), durch das stellenweise groteske Spiel der Darsteller wird das gesellschaftlich brisante Thema satirisch überhöht und recht elegant der politischen Phraseologie entzogen. Platow, gleichsam eine spöttische Dekonstruktion der sozialistischen Arbeiterpersönlichkeit, ignoriert auf seine eigene kauzige Weise die an ihn gestellten Ansprüche und schafft es dabei dennoch, sich zu »qualifizieren« – als Eisenbahner, vor allem aber als Mensch.

R Siegfried Kühn B Helmut Baierl, Siegfried Kühn K Roland Dressel M Hans Jürgen Wenzel A Georg Wratsch S Brigitte Krex P Herbert Ehler D Fritz Marquardt, Jürgen Holtz, Gisela Hess, Volkmar Kleinert, Hermann Beyer, Rolf Hoppe | DDR | 90 min | 1:1,66 | f & sw | 1. Juni 1973

# 977 | 9. November 2015

16.5.73

The Day of the Jackal (Fred Zinnemann, 1973)

Der Schakal

Ein Film über zwei Profis. Der eine (Edward Fox) will den französischen Präsidenten Charles de Gaulle töten. Der andere (Michael Lonsdale) will dieses Vorhaben verhindern. Und noch ein dritter Profi ist dabei: der Regisseur. Fred Zinnemann beobachtet die beiden Kontrahenten mit jeweils dem gleichen Interesse an ihrer Arbeit und der gleichen Hochachtung vor ihrem Einfallsreichtum. Wenn er am Ende seines knochentrockenen Polit-Thrillers das sogenannte Gute gewinnen läßt, dann 1. weil es der historischen Wirklichkeit entspricht (de Gaulle starb, wie man weiß, friedlich im Bett) und 2. weil das Gute nicht besser sondern einfach einen Tick ausgebuffter, ein kleines bißchen zäher war.

R Fred Zinnemann B Kenneth Ross V Frederick Forsyth K Jean Tournier M Georges Delerue A Willy Holt, Ernest Archer S Ralph Kemplen P John Woolf D Edward Fox, Michael Lonsdale, Derek Jacobi, Alan Badel, Delphie Seyrig | UK & F | 143 min | 1:1,85 | f | 16. Mai 1973

14.5.73

La nuit américaine (François Truffaut, 1973)

Die amerikanische Nacht

»Les films sont plus harmonieux que la vie.« Der große Liebesfilmregisseur François Truffaut erzählt seine große Liebesgeschichte mit dem Kino. In den Studios de la Victorine in Nizza (wo schon »Les enfants du paradis« von Carné und Prévert entstanden ist) wird ein Film gedreht: »Je vous présente Paméla« handelt von einem Mann, der sich in die Frau seines Sohne verliebt, oder von einer Frau, die sich in den Vater ihres Mannes verliebt, oder von einem Mann, dessen Frau sich in seinen Vater verliebt. Im Grunde ist die Fabel vollkommen gleichgültig, wichtig ist nur, daß dieser Film (der stellvertretend für alle Filme steht) gedreht wird, wichtig sind die Schauspieler, der alternde Beau und der launische Romantiker, die exaltierte Diva und der zerbrechliche weibliche Star, wichtig ist die Crew, das patente Scriptgirl und der vorlaute Requisiteur, der betriebsame Aufnahmeleiter und der joviale Produzent, nicht zu vergessen der Mann im Mittelpunkt, der Mann, dem ohne Unterlaß Fragen gestellt werden, Fragen, auf die er zumeist eine Antwort weiß, aber nicht immer: der Regisseur. Truffaut selbst spielt die Rolle des metteur en scène, der dazu bestimmt ist, in der Arbeit für das Kino sein eigentliches Lebensglück zu finden. Immer wieder eröffnet »La nuit américaine« Blicke hinter die Kulissen, zeigt den komplexen Herstellungsprozeß, betont geradezu die Künstlichkeit, das »Gemachte« eines Films. Wundersamerweise resultiert daraus keine Desillusion, ganz im Gegenteil: Indem er (natürlich nicht alle) seine Tricks enthüllt, bewahrt Truffaut die verführerische Zauberkraft des Mediums, dem er verfallen ist.

R François Truffaut B François Truffaut, Jean-Louis Richard, Suzanne Schiffman K Pierre-William Glenn M Georges Delerue A Damien Lanfranchi S Yann Dedet, Martine Barraqué P FRançois Truffaut D François Truffaut, Jacqueline Bisset, Jean-Pierre Léaud, Jean-Pierre Aumont, Valentina Cortese, Nathalie Baye | F & I | 116 min | 1:1,66 | f | 14. Mai 1973

# 953 | 13. Juni 2015

9.5.73

Paper Moon (Peter Bogdanovich, 1973)

Paper Moon

»Just around the corner, / there’s a rainbow in the sky.« Mitte der 1930er Jahre im Mittleren Westen der USA. Moses Pray (Ryan O’Neal), der sich mit Bauernfängereien durchs Leben schummelt, willigt notgedrungen ein, Addie Loggings (Tatum O’Neal), die neunjährige Tochter einer verstorbenen Exgeliebten, von Kansas nach Missouri zu chauffieren, wo das Waisenmädchen bei einer Tante unterkommen soll. Auf der Fahrt durch flache, baumlose, unabsehbar weite Landschaften kommen der etwas unterbelichtete Schwindler und die ausgebuffte Göre sich langsam näher und miteinander ins Geschäft: Nicht nur eine gewisse Familienähnlichkeit (»the same jaw«) verbindet die beiden sondern vor allem der feste Wille, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. »Paper Moon«, eine wirkungsvolle Mischung aus road movie, buddy film und sentimentaler Komödie, sympathisiert uneingeschränkt mit den Protagonisten, die ihren ganz persönlichen New Deal ins Werk setzen. Peter Bogdanovich verzichtet, wie schon in »The Last Picture Show«, tunlichst auf kommentierende Filmmusik, evoziert das Zeitgefühl durch den sparsamen Einsatz von populären Songs der Ära. Laszlo Kovacs’ beeindruckende tiefenscharf-kontrastreiche Schwarzweiß-Fotografie verweist auf die Arbeit des genialen Kameramanns Gregg Toland (der für John Ford das Depressionsdrama »The Grapes of Wrath« drehte) wie auch auf den schnörkellosen Dokumentarismus von Walker Evans oder Dorothea Lange, deren Bilder Not und Elend der Krisenzeit einprägsam festhielten. Freilich ist es Bogdanovich weniger um sozialkritischen Realismus zu tun als um eine bald zärtlich-distanzierte, bald ironisch-überspitzte Betrachtung der Schattenseiten des American way of life, die nicht ganz frei bleibt von nostalgischer Stimmungsmalerei: »Be like two fried eggs, / Keep your sunny side up!«

R Peter Bogdanovich B Alvin Sargent V Joe David Brown K Laszlo Kovacs M diverse A Polly Platt S Verna Fields P Peter Bogdanovich D Ryan O’Neal, Tatum O’Neal, Madeline Kahn, John Hillerman, P. J. Johnson | USA | 102 min | 1:1,85 | sw | 9. Mai 1973

# 963 | 10. Juli 2015

12.4.73

Les noces rouges (Claude Chabrol, 1973)

Blutige Hochzeit

Ein kleine Stadt, irgendwo im Herzen Frankreichs, drei Autostunden entfernt von Paris. Die Verhältnisse scheinen geordnet, doch sie sind es (wie immer und überall) nur äußerlich. Lucienne (Stéphane Audran), die sexuell unterforderte Gattin des Bürgermeisters, und dessen unglücklich verheirateter Stellvertreter Pierre (Michel Piccoli) verfallen einander in rasender Leidenschaft. Zwei Menschen müssen sterben, damit dieser amour fou gelebt werden kann: die notorisch kränkelnde Frau des Stellvertreters und der allzeit kregle Bürgermeister (Claude Piéplu), der aus der heimlichen Affäre ganz persönliches (politisches und finanzielles) Kapital schlagen will … Fast folgerichtig erscheint unter Claude Chabrols (und Jean Rabiers) forschenden Blicken der Weg der Liebenden ins Verbrechen, das ihnen freilich statt der ersehnten Befreiung die endgültige Trennung bringt. Mit melancholischem Sarkasmus bestellt Chabrol in seiner abgründigen Verarbeitung eines wahren Kriminalfalles aus der zentralfranzösischen Provinz ausgerechnet Luciennes wohlmeinende Tochter zum unwillentlichen Werkzeug der Gerechtigkeit: »Je voudrais tant que tu sois enfin heureuse.«

R Claude Chabrol B Claude Chabrol K Jean Rabier M Pierre Jansen A Guy Littaye S Jacques Gaillard P André Génovès D Michel Piccoli, Stéphane Audran, Claude Piéplu, Eliana de Santis, Clotilde Joano | F & I | 95 min | 1:1,66 | f | 12. April 1973

# 996 | 6. Mai 2016

11.4.73

Scorpio (Michael Winner, 1973)

Scorpio, der Killer

Der Spionage-Thriller ist eines der Schlüsselgenres der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die »Landschaft der Verrats« findet ihre eindrücklichste Widerspiegelung im Agentenfilm, und so haben auch halbgare Exemplare der Gattung zumeist ihre Meriten. Die besseren Momente von »Scorpio« etwa beschäftigen sich mit der Auseinandersetzung zwischen altgewordenen Idealisten (verkörpert von Burt Lancaster und Paul Scofield) sowie nachwachsenden Technokraten und karrieristischen Söldnern (porträtiert von Alain Delon); der Krieg der Ideologien ist in einen Krieg der »Dienste« übergegangen, deren Glaubensinhalt im Professionalismus liegt: »The only rule is to stay in the game.« Hauptschauplatz des Geschehens ist Wien, das statt blauer Donau nur braungraue Fassaden zeigt und mit der U-Bahn-Baustelle am Karlsplatz die Kulisse für eine halbwegs dramatische unterirdische Ver­folgungsjagd liefert. Leise zitternde Erinnerungen an »The Third Man« kommen auf, doch Regisseur Michael Winner fällt inszenatorisch nicht viel mehr ein, als die Erwartungen des Zuschauers immer wieder dadurch zu unterlaufen, daß er in die Totale schneidet, wenn mit einer Großaufnahne zu rechnen gewesen wäre (oder umgekehrt).

R Michael Winner B David W. Rintels, Gerald Wilson K Robert Paynter M Jerry Fielding A Herbert Westbrook S Michael Winner P Walter Mirisch D Burt Lancaster, Alain Delon, Paul Scofield, John Colicos, Gayle Hunnicutt | USA | 114 min | 1:1,85 | f | 11. April 1973

5.4.73

Theatre of Blood (Douglas Hickox, 1973)

Theater des Grauens

»Will you ever again ruin the reputation of an honest man?« Jeder, der schon einmal schlechte Kritiken bekam, hat sich vermutlich ausgemalt, wie er die feindlichen Rezensenten genüßlich meucheln könnte. Der oft und boshaft verrissene Shakespeare-Mime Edward Lionheart (somewhere over the top: Vincent Price) tut sich keinen Zwang an, er schreitet zur Tat. Kritiker, so heißt es, sind keine Besserkönner sondern Besserwisser. Lionheart (»He can never be destroyed, never!«) beweist, daß Angehörige dieses völlig überflüssigen Berufsstandes (mit ätzender Häme persifliert von Jack Hawkins, Robert Morley, Coral Browne, Harry Andrews, Michael Hordern) zumindest eines besser können: sterben.

R Douglas Hickox B Anthony Greville-Bell K Wolfgang Suchitzky M Michael J. Lewis A Michael Seymour S Malcolm Cooke P John Kohn, Stanley Mann D Vincent Price, Diana Rigg, Ian Hendry, Harry Andrews, Coral Browne | UK | 104 min | 1:1,66 | f | 5. April 1973

29.3.73

Die Legende von Paul und Paula (Heiner Carow, 1973)

»Ideal und Wirklichkeit gehen nie übereinander. Ein Rest bleibt immer.« Das Ideal des Films ist die bedingungslose Liebe, seine Wirklichkeit ist der real-existierende Sozialismus. Während das Gestern Haus für Haus weggesprengt wird und aus dem Trümmerstaub eine schöne neue Plattenwelt ersteht, begegnen und verlieben sich die zweifache Mutter und Kaufhallenkraft Paula (aus dem Altbau: Angelica Domröse) und der verheiratete Nachwuchsfunktionär Paul (aus dem Neubau: Winfried Glatzeder). »Wir wollen folgendes machen«, sagt Paula, »wir lassen es dauern, solange es dauert. Wir machen nichts dagegen und nichts dafür.« Ihr radikaler Glücksanspruch steht zunächst gegen seinen aufstiegsorientierten Opportunismus, bis Paul erkennt, daß er als Teil des Systems nicht viel zu gewinnen hat, und so legt er sich in den Schatten seiner schönen Freundin … Das Drehbuch von Ulrich Plenzdorf verbindet gekonnt und wirkungsvoll scharfe Milieuzeichnung mit märchenhafter Darstellung, umgibt die graue Flüchtigkeit des Alltags mit dem Schein von Ewigkeit und (biblischem) Mythos: »Jegliches hat seine Zeit,
 / Steine sammeln, Steine zerstreun,
 / Bäume pflanzen, Bäume abhaun,
 / leben und sterben und Streit.« Heiner Carows kongeniale Regie verleiht der Ostberliner (genauer gesagt: Friedrichshainer) Liebesdichtung aus den frühen 1970er Jahren Gültigkeit weit über Zeit und Ort hinaus. »Die Legende von Paul und Paula« beschreibt den permanenten, überall bestehenden Konflikt zwischen Individualismus und Anpassung – und feiert dabei, ohne Rücksicht auf Verluste, das ganz große Gefühl: »Ihre Liebe war stark wie der Tod.«

R Heiner Carow B Ulrich Plenzdorf K Jürgen Brauer M Peter Gotthardt, Puhdys A Harry Leupold S Evelyn Carow P Erich Albrecht D Angelica Domröse, Winfried Glatzeder, Fred Delmare, Heidemarie Wenzel, Rolf Ludwig | DDR | 109 min | 1:1,66 | f | 29. März 1973

27.3.73

Sisters (Brian De Palma, 1973)

Die Schwestern des Bösen

Eine Journalistin (Jeniffer Salt) meint einen Mord beobachtet zu haben und verdächtigt ein junges Model (Margot Kidder) bzw. deren siamesische Zwillingsschwester der Tat. Brian De Palmas erste Variation über Motive von Hitchcock imponiert durch den unbedingten Formwillen sowie die gelungene Verbin­dung von Reflexion und Überhöhung der Vorbilder mit hochemotionalen Spannungsmomenten – Kino als gut geölte Manipulationsmaschine, die gleichzeitig (durch parodistische Distanzierung) ihre Funktionsweisen ausstellt und kommentiert. Mit scheinbar simplen filmischen Mitteln dringt De Palma weit in die deformierte Psyche seiner Figuren vor. Insbesondere das Ende (das auch »Dr. Caligari« sowie Bergmans »Persona« benutzt und verarbeitet) – die Ereignisse in der Irrenanstalt, die Hypnose, die Freakshow, die »Operation« der Schwestern – hat eine nachhaltig verstörende Wirkung. Nicht zu vergessen: der Score von Bernard Herrmann, der eine überkandidelte (und dabei sehr effektive) Travestie seiner eigenen Meisterkompositionen beisteuert.

R Brian De Palma B Brian De Palma, Louisa Rose K Gregory Sandor M Bernard Herrmann A Gary Weist S Paul Hirsch P Edward R. Pressman D Margot Kidder, Jennifer Salt, Charles Durning, William Finley, Barnard Hughes | USA | 93 min | 1:1,85 | f | 27. März 1973

15.3.73

Alle Menschen werden Brüder (Alfred Vohrer, 1973)

Zwei Brüder, zwischen ihnen eine Frau und die Schatten der deutschen Vergangenheit. Der Film beginnt exotisch, mit einem Schwenk über den Marktplatz von Marrakesch, die untergehende Sonne streut Lichtflecke in die Linse. Zwei Europäer unterwegs in der Stadt. Verfolgung durch die Souks. Einer der Männer wird in seinem Hotelzimmer ermordet, der andere reist zurück in die Heimat, wird noch am Flughafen verhaftet. Seine Geschichte führt aus den sechziger Jahren in die Nachkriegszeit. Zwei Brüder, zwei Schriftsteller: Werner (Harald Leipnitz), einst mit den Nazis im Bunde, darf nicht mehr schreiben; Richard (Rainer von Artenfels), als Dolmetscher für die Amerikaner (Roberto Blanco als Besatzungsoffizier!) tätig, fehlt es an Talent. Die beiden arrangieren sich zum gegenseitigen Vorteil, entzweien sich jedoch über die verführerische Lillian (Doris Kunstmann). Werner »hilft« fortan alten Kameraden in der westdeutschen Provinz, Richard betreibt mit einem jüdischen KZ-Überlebenden ein Bumslokal in Frankfurt (wo sich Elisabeth Volkmann nackt zum Gesang von Ingrid van Bergen räkelt). Zwei Brüder, zwei Todfeinde: Alfred Vohrer und Johannes Mario Simmel erzählen von Schuld und Schwäche, von Haß und Rache, von offenen Rechnungen und manipulierten Gefühlen, von stetig blubbernden braunen Sümpfen und immer wieder enttäuschter Hoffnung, sie leuchten ins Niemandsland zwischen Gut und Böse, berichten aus einer Welt, in der Brüderlichkeit nur ein frommer Wunsch ist – oder ein spitzer Dolch, der sich in einen Rücken bohrt.

R Alfred Vohrer B Manfred Purzer V Johannes Mario Simmel K Charly Steinberger M Erich Ferstl A Wolf Englert S Ingeborg Taschner P Luggi Waldleitner D Rainer von Artenfels, Harald Leipnitz, Doris Kunstmann, Klaus Schwarzkopf, Herbert Fleischmann | BRD | 108 min | 1:1,66 | f | 15. März 1973

# 855 | 16. April 2014

7.3.73

The Long Goodbye (Robert Altman, 1973)

Der Tod kennt keine Wiederkehr

»There's a long goodbye,
 / And it happens every day.« Philip Marlowe ist ein Relikt. Er fährt einen 1948er Lincoln Continental. Er trägt einen schwarzen Anzug. Er legt nie die Krawatte ab. Er glaubt an Loyalität. Robert Altman, der Raymond Chandlers Roman aus dem Jahr 1953 mit spleenig-hellhöriger (Nach-)Lässigkeit inszeniert, verlegt das obskure Geschehen aus der Nachkriegszeit in die Gegenwart: Elliott Gould nuschelt sich in der Rolle des legendären private eye durch das Los Angeles der frühen siebziger Jahre. Amerika zwischen Hippie und Watergate erscheint im Auge von Vilmos Zsigmonds unaufhörlich bewegter Kamera wie ein Wachtraum, den sonderbare, zumeist (geld-)gierige Existenzen bevölkern: ausgebrannte Vollblutschriftsteller und intrigante Ehefrauen, dubiose Ärzte und bösartige Gangster, falsche Freunde und wählerische Katzen. Marlowe, der in einem luftigen Apartment neben einer Kommune von sexy Kerzenzieherinnen haust, kommentiert alle Absonderlichkeiten, die ihm zwischen Hollywood Hills, Malibu Colony und dem mexikanischen Nest Otatoclán begegnen, mit dem immergleichen abgeklärten: »That’s OK with me.« Nur in Bezug auf Vertrauensbruch versteht der Detektiv keinen Spaß: »Nobody cares but me.« – »Well, that's you, Marlowe. You'll never learn. You're a born loser.« Die Sch(l)ußpointe beweist so etwas wie das Gegenteil. Das Engagement einer Reihe von Hollywood-Veteranen erhebt Altmans brillante Thriller-Variation geradewegs in den Rang eines Neo-noir-Klassikers – Sterling Hayden, der den versoffenen Romancier Roger Wade spielt, Autorin Leigh Brackett, die schon (mit William Faulkner) das Drehbuch zu Howard Hawks’ Chandler-Adaption »The Big Sleep« verfaßte, Johnny Mercer, der den Text zu John Williams’ vielfältig variierter Titelmelodie beisteuert: »It's too late to try, / When a missed hello / Becomes the long goodbye.«

R Robert Altman B Leigh Brackett V Raymond Chandler K Vilmos Zsigmond M John Williams S Lou Lombardo P Jerry Bick D Eliott Gould, Nina van Pallandt, Sterling Hayden, Mark Rydell, Henry Gibson | USA | 112 min | 1:2,35 | f | 7. März 1973

# 945 | 20. Februar 2015

18.1.73

Traitement de choc (Alain Jessua, 1973)

Der Preis für ein Leben

Eine Reise zur Quelle der ewigen Jugend … Hélène Masson (Annie Girardot), Modemacherin Ende 30, erfolgreich und erschöpft, von ihrem Freund wegen einer Jüngeren verlassen, fährt zur Kur ans Meer, in die abgelegene Privatklinik des attraktiv-alerten Dr. Devilers (Alain Delon), der an seinen Patienten wahre Wunder vollbringt. Es ist eine exklusive und zahlungskräftige Klientel, die sich in der modernen Heilstätte regelmäßig zur Thalassotherapie einfindet; die verschiedenen Anwendungen werden ergänzt durch Aufbauspritzen von überraschend belebender Wirkung. Hélène genießt zunächst die ungezwungene Atmosphäre wie auch die erotischen Aufmerksamkeiten des Chefarztes, wundert sich aber über die zunehmende Schlappheit der zahlreichen jungen portugiesischen Bediensteten; nach dem Selbstmord eines guten Freundes und Mitpatienten unternimmt sie auf eigene Faust Recherchen in der abweisenden Umgebung der Klinik und in den geheimen Laboratorien des Verjüngungsspezialisten … Alain Jessua beschreibt in seinem makabren Thriller nicht nur die allzumenschliche Furcht vor physischem Verfall und die verzweifelte Jagd nach dauerhafter Kraft und Schönheit, er zieht auch eine gerade Linie von den blutigen Opferritualen archaischer Gesellschaften zu den ausbeuterischen Klassenverhältnissen der abendländischen Zivilisation: Immer sind es die Schwachen, die über die Klinge springen, um die Starken stärker zu machen.

R Alain Jessua B Alain Jessua, Roger Curel K Jacques Robin M René Koering, Alain Jessua A Constantin Mejinsky S Hélène Plemiannikov P Raymond Danon, Robert Dorfmann D Annie Girardot, Alain Delon, Michel Duchaussoy, Robert Hirsch, Jean-François Calvé | F & I | 91 min | 1:1,66 | f | 18. Januar 1973

# 859 | 18. April 2014

7.1.73

Tote Taube in der Beethovenstraße (Samuel Fuller, 1973)

In der Bonner Beethovenstraße wird ein Mann erschossen. Der Täter kann entkommen. Der Tote war ein amerikanischer Detektiv. Dessen Partner Sandy (Glenn Corbett) macht sich auf die Suche nach dem Mörder (mit dem schönen Namen Charlie Umlaut) und nach den Hintermännern des Verbrechens ... Samuel Fuller betreibt mit rücksichtsloser Nonchalance die Verwandlung des westdeutschen Fernsehkrimis in ein kapriziöses B-Movie über das zwölftälteste Gewerbe der Welt: Erpressung mit Schmuddelfotos. Der eigentliche Ermittler (WDR-Zollfahnder Kressin: Sieghard Rupp) wird schon nach wenigen Minuten außer Gefecht gesetzt, woraufhin der beherzte Sandy in die kriminellen Abgründe des Rheinlandes hinabsteigt; im Verlauf der kruden Angelegenheit treiben – bis zum melodramödiantischer Showdown – unter anderem eine verlebte Verführerin, ein durchgeknallter Scherge sowie ein virtuos fechtender Oberschurke ihr schändliches Unwesen. Daß er ausgerechnet die verschlafene Bundeshauptstadt zur Zentrale eines international tätigen Gangstersyndikats erkoren hat, mag Fullers rabiate Ironie ebenso belegen wie die bald traum-, bald lach-, immer aber sprunghafte Dramaturgie des absurd-karnevalesken Reißers.

R Samuel Fuller B Samuel Fuller K Jerzy Lipman M Can A Lothar Kirchem S Liesgret Schmitt-Klink P Joachim von Mengershausen D Glenn Corbett, Christa Lang, Anton Diffring, Eric P. Caspar, Sieghardt Rupp, Stéphane Audran | BRD | 98 min | 1:1,37 | f | 7. Januar 1973

# 1037 | 12. Dezember 2016