30.12.55

Alibi (Alfred Weidenmann, 1955)

Herbert Reinecker, der sich seine journalistischen Sporen als Schriftleiter bei HJ-Blättern und als Kriegsberichter der Waffen-SS verdiente, singt ein Hohelied auf die hehre Mission der freien Presse in der offenen Gesellschaft … O. E. Hasse spielt die Edelfeder Peter Hansen, einen rasenden Reporter, der, ohne Herzblut zu vergießen, von Knüller zu Knüller eilt und dabei langsam aber sicher den Kontakt zur Wirklichkeit verliert. Als Geschworener in einem scheinbar klarliegenden Mordprozeß (Hardy Krüger verkörpert den zornigen jungen Mann, der angeklagt ist, seine verheiratete Geliebte getötet zu haben) wird er zurück auf den Teppich der widersprüchlichen Realität gebracht: Der überhebliche Welterklärer fühlt Zweifel am Augenschein in sich aufsteigen, verspürt Mißtrauen gegen (vor-)schnelle Folgerungen, und plötzlich steht die Möglichkeit des Herstellens von Gerechtigkeit als solches in Frage. Die Moralkeule schwingt hin und wieder hörbar durch den Film, etwa anläßlich der Taufe einer Druckmaschine: »Wenn einer nirgendwo mehr recht bekommt, dann bleibt immer noch ein Ausweg: ›Ich schreib an meine Zeitung!‹ Und wenn er das nicht mehr kann, dann machen wir die Zeitung bloß, daß die Leute was zum Einwicken haben oder zum …« Alles in allem gelingt Reinecker (der mit »Alibi« wohl auch über eigene schuldhafte Verfehlungen und ihre Beurteilung sinniert) eine clevere Mischung aus Whodunit, Gerichtsfilm und Gewissensdrama, die von Alfred Weidenmann mit visuellen Noir-Anklängen stringent in Szene gesetzt wird.

R Alfred Weidenmann B Herbert Reinecker K Helmuth Ashley M Hans-Martin Majewski A Rolf Zehetbauer, Albrecht Hennings S Carl Otto Bartning P Friedrich A. Mainz D O. E. Hasse, Martin Held, Hardy Krüger, Peer Schmidt, Siegfried Schürenberg | BRD | 109 min | 1:1,37 | sw | 30. Dezember 1955

29.12.55

Ich denke oft an Piroschka (Kurt Hoffmann, 1955)

Piroschkas unvergeßliches »Geh’, Andi, mach Signal!« ist das »Baise-moi!« der deutschen 1950er Jahre: Jungs und Mädchen fallen (noch) nicht übereinander her, bevor sie ihre Namen kennen; vielmehr scharwenzeln sie einen unendlichen Sommerurlaub lang umeinander herum, bevor es zum Letzten kommt – so wie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch zwischen der reizenden Tochter des Stationsvorstehers aus dem kleinen Puszta-Kaff und dem netten deutschen Austauschstudenten (Gunnar Möller). Natürlich nicht vor dem Auge der diskreten Kamera (Richard Angst), sondern gut versteckt im hohen Gras des Bahndamms. So idyllisch-verträumt wie in Kurt Hoffmanns ungarischer Romanze wird es wohl nie wieder. Das ist – verdammt nochmal! – schade. Und auch wenn Lilo Pulvers barfüßige Piri zu keinem Zeitpunkt aussieht wie süße 17: Hódmezövásárhelykutaspuszta forever!

R Kurt Hoffmann B Per Schwenzen, Hugo Hartung V Hugo Hartung K Richard Angst M Franz Grothe A Ludwig Reiber S Claus von Boro P Georg Witt D Liselotte Pulver, Gunnar Möller, Wera Frydtberg, Gustav Knuth, Rudolf Vogel | BRD | 96 min | 1:1,37 | f | 29. Dezember 1955

26.12.55

Sommarnattens leende (Ingmar Bergman, 1955)

Das Lächeln einer Sommernacht 

»Where are the clowns? / Send in the clowns.« Ein Bergman-Film ohne Grübelei, Düsternis, Weltschmerz oder Seelennot. Obwohl… da sind der alternde Advokat, der vor den großen Fragen des Lebens (und der Liebe) in die Ironie flüchtet (Gunnar Björnstrand), seine blutjunge, verunsicherte, immer noch unberührte Frau, die vor Sehnsucht vergeht (Ulla Jacobsen), und sein Sohn aus erster Ehe, ein angehender Theologe, in dessen Haupthaar die Vögel des Kummers ihre Nester bauen (Björn Bjelfvenstam); da ist die gefeierte Schauspielerin, der die Männer zwar zu Füßen (und anderswo) liegen, aber deren Hand sie nicht ergreifen wollen (Eva Dahlbeck); außerdem der eitle, eifersuchtsblinde Militär (Jarl Kulle) und seine vernachlässigte Gemahlin (Margit Carlquist) – es könnte böse ausgehen mit ihnen. Aber Gott (?) sei Dank gibt es da auch eine alte, lebenskluge Dame (Naima Wifstrand), die es einfach ignoriert, wenn die Leute reden, weil sie weiß, daß anderen zuzuhören nur unglücklich macht. Auf ihrem Anwesen wendet sich in einer lächelnden Sommernacht alles zum Guten… Ingmar Bergman konstruiert mit viel Zartgefühl eine kinematographische Spieluhr, zu deren feiner Melodie sich die füreinander Bestimmten tatsächlich finden. Man könnte es auch so sagen: Der Abgrund ist da, aber keiner stürzt sich hinab – alle stehen sie neben einander am Rand der Schlucht, halten sich fest bei den Händen und spucken hinunter.

R Ingmar Bergman B Ingmar Bergman K Gunnar Fischer M Erik Nordgren A P. A. Lundgren S Oscar Rosander P Allan Ekelund D Gunnar Björnstrand, Ulla Jacobsson, Björn Bjelfvenstam, Eva Dahlbeck, Jarl Kulle, Harriet Andersson | S | 108 min | 1:1,37 | sw | 26. Dezember 1955

22.12.55

Lola Montès (Max Ophüls, 1955)

Lola Montez

»La vie, c’est pour moi le mouvement«, sagt Lola Montez (Martine Carol) mit wehmütig-lüsternem Unterton zu einem Liebhaber, dem sie in allernächster Zukunft den Laufpaß geben wird. »Le cinéma, c’est pour moi le mouvement«, könnte Max Ophüls gesagt haben, ein Regisseur, der auch in diesem (seinem letzten) Film der Kamera kaum einen Moment des Innehaltens gestattet, der mit den äußeren Bewegungen des Apparates den inneren Bewegungen der Figuren nachzuspüren sucht. Ironischerweise läßt Ophüls die Titelfigur seiner biographischen Phantasie, die zu ihrer Zeit skandalumwittertste Frau der Welt (Ballerina, Kurtisane, Libertinerin), wie ein kostbares Denkmal ihrer selbst fast unbewegt im Drehpunkt eines buntschillernden kinematographischen Karussells Platz nehmen. So wird Lola, die im Rahmen eines extravaganten Zirkusprogramms (mit reichlich Zwergen und Artisten, Musikern und Clowns) allabendlich vor schaulustigem Publikum ihr bewegtes Leben Revue passieren läßt, zum Spiegel von Illusionen, zur Projektionsfläche von Wünschen, zur Katalysatorin, die vielfältige emotionale Reaktionen bei ihren schnell wechselnden Partnern auslöst: die unsentimetale Genußfreude eines illustren Klavierstars (Will Quadflieg als Franz Liszt), die machohafte Zudringlichkeit eines versoffenen Offiziers (Ivan Desny), die hitzige Schwärmerei eines jungen Studenten (Oskar Werner), das erotische Heimweh eines alternden Monarchen (Adolf Wohlbrück als Bayernkönig Ludwig I.) und nicht zuletzt die ausbeuterische Zuneigung des (von Peter Ustinov gespielten) peitscheschwingenden Conférenciers. Im nonchalanten Hin und Her zwischen Manegennummern und Rückblenden, im freien Spiel der Bildausschnitte erfindet Ophüls ein opulentes Spektakel der (kurzlebigen) Liebe und des (flüchtigen) Geldes, der (zerfallenden) Macht und des (vergänglichen) Ruhms, einen intimes Panorama von Aufstieg (»Plus haut, Lola, plus haut!«) und schließlichem Fall einer öffentlichen Person. Der letzte Auftritt zeigt Lola, die gewesene machine à scandale, zwischen den anderen wilden Tieren der Menagerie in einem Käfig thronend, für jedermann gegen kleines Geld zu begaffen und betatschen: »Venez, venez, venez! Un dollar seulement!«

R Max Ophüls B Annette Wademant, Max Ophüls, Jacques Natanson V Cécil Saint Laurent K Christian Matras M Georges Auric A Jean d’Eaubonne S Madeleine Gug P Albert Caraco D Martine Carol, Peter Ustinov, Adolf Wohlbrück, Oskar Werner, Ivan Desny, Will Quadflieg | F & BRD | 115 min | 1:2,35 | f | 22. Dezember 1955

# 1098 | 1. März 2018

8.12.55

The Ladykillers (Alexander Mackendrick, 1955)

Ladykillers

Nein, Verbrechen lohnt sich auch in diesem schwarzkomödiantischen Fall nicht – die fünf (bunt zusammengewürfelten) Kriminellen, die unter Führung des originell-verrückten »Professor« Marcus (Alec Guinness) 60.000 Pfund rauben, dürfen die Früchte ihrer Tat nicht genießen. Scheinbar widerstrebende Nutznießer der Gesetzlosigkeit sind (einmal mehr) Anstand und Tugend, die in guter Absicht ihr ganz eigenes Chaos entfalten … In Gestalt einer penetrant reizenden älteren Dame (Katie Johnson als verwitwete Mrs. Wilberforce – ihr Gatte, Kapitän der Handelsmarine, versank vor einem Menschenalter mit seinem Schiff, nicht ohne zuvor drei befreundeten Papageien das Leben gerettet zu haben), in deren viktorianischem, direkt oberhalb der Einfahrt eines Eisenbahntunnels (!) gelegenen Häuschen der Überfall (unter musikalischer Tarnung) geplant und später die Sore verteilt wird – läßt Alexander Mackendrick liebenswürdige Vernageltheit über Ehrgeiz und Ingenium triumphieren. Die erwartungsvolle Gegenwart muß sich angesichts der Übermacht einer unerschütterlichen Vergangenheit (einmal mehr) restlos geschlagen geben: »We’ll never be able to kill her. She’ll always be with us, forever and ever and ever. And there’s nothing we can do.«

R Alexander Mackendrick B Willam Rose K Otto Heller M Tristram Cary A Jim Morahan S Jack Harris P Michael Balcon D Katie Johnson, Alec Guinness, Herbert Lom, Peter Sellers, Cecil Parker | UK | 91 min | 1:1,66 | f | 8. Dezember 1955