27.2.52

Roma ore 11 (Giuseppe De Santis, 1952)

Es geschah Punkt 11

»Cercasi dattilografa primo impiego miti pretese presentarsi ore 11 Largo Circense 37« Auf eine knappe Zeitungsannonce hin strömen über 200 junge Frauen an einem regnerischen Wintermorgen zur angegebenen römischen Adresse, um die Stellung einer Schreibkraft zu ergattern. Die Bewerberinnen quetschen sich im Treppenhaus des alten Gebäudes, das dem Ansturm nicht standhält: Die Treppe bricht unter der Last der Arbeitsuchenden zusammen. Viele werden verletzt, ein Mädchen kommt zu Tode … Ausgehend von einem Vorfall, der sich im Januar 1951 tatsächlich ereignete, schildern Giuseppe De Santis und seine Mitautoren, unter ihnen Cesare Zavattini und Elio Petri, mit unpathetischer Anteilnahme die verschiedenen Facetten eines Massenschicksals: Zeigt der Anfang des Films vor allem die – zumeist gereizten – Interaktionen einer von wirtschaftlicher Not und sozialen Entbehrungen zusammengewürfelten Gruppe, löst der zweite, nach dem Einsturz der Treppe spielende, Teil eine Handvoll Figuren aus dem Ensemble heraus, um mit großem dramaturgischem Geschick die mannigfaltigen Aspekte einer allgemeinen Misere zu veranschaulichen. Otello Martellis – häufig bewegte – Kamera erforscht alle Schattierungen von Grau, Mario Nascimbenes Musik kombiniert das freudlose Sirren eines Theremins mit dem marschartigen Gehämmer von Typenhebeln, während ein komplexes Zeitbild Gestalt gewinnt. Auch wenn es den Machern darum geht, die Hintergründe des Unglücksfalls zu erhellen, verzichtet »Roma ore 11«auf bequeme Schuldzuweisungen: Der egoistische Akt, mit dem eine Vordränglerin die Katastrophe heraufbeschwört, findet seine Erklärung in den verzweifelten Umständen, die vom Einzelnen kaum zu ertragen, die alleine nicht zu überwinden sind.

R Giuseppe De Santis B Cesare Zavattini, Basilio Franchina, Guiseppe De Santis, Rodolfo Sonego, Gianni Puccini, Elio Petri K Otello Martelli M Mario Nascimbene A Léon Barsacq S Gabriele Variale P Paul Graetz D Carla Del Poggio, Massimo Girotti, Lucia Bosè, Raf Vallone, Paolo Stoppa | I & F | 105 min | 1:1,37 | sw | 27. Februar 1952

# 923 | 4. Dezember 2014

22.2.52

5 Fingers (Joseph L. Mankiewicz, 1952)

Der Fall Cicero

»I am a spy, obviously.« Der Spion: kein Idealist, ein Materialist. Er sieht zuvörderst sich selbst: auf der Terrasse einer Villa in Rio, gekleidet in ein weißes dinner jacket, vielleicht in Gesellschaft einer schönen Frau. Um dieses Bild Wirklichkeit werden zu lassen, ist dem Spion jedes Mittel recht: »If I've faith in the future of anything ... it is in the future of money.« Ankara, 1944: der albanische Kammerdiener des britischen Botschafters in der Türkei verscherbelt, im Verein mit der französischen Witwe eines deutschfreundlichen polnischen Grafen, streng geheime Informationen der Alliierten an die Nazis. Akzentuiert von Bernard Herrmanns treibendem Streicher-Score (eine Hitchcock-Allusion avant la lettre), gestaltet Joseph L. Mankiewicz seine (locker auf Tatsachen beruhende) Agentenstory als Mischung aus schwarzer Gesellschaftskomödie und semi-documentary crime thriller à la Henry Hathaway. Das Ende zeigt einen betrogenen Betrüger, der eine Zeitlang genießen konnte, wonach es ihn verlangte, und der die Größe hat, über das Zerplatzen seines Traums herzlich zu lachen.

R Joseph L. Mankiewicz B Michael Wilson V L. C. Moyzisch K Norbert Brodine M Bernard Herrmann A Lyle Wheeler, George W. Davis S James B. Clark P Otto Lang D James Mason, Danielle Darrieux, Oskar Karlweis, Walter Hampden, Michael Rennie | USA | 108 min | 1:1,37 | sw | 22. Februar 1952

# 994 | 10. April 2016

6.2.52

Wienerinnen (Kurt Steinwendner, 1952)

(Schrei nach Liebe – Roman brennender Herzen) 

Ein Episodenfilm. Vier Erzählungen – nicht über die üblichen Heroinen des »Wiener Films«, süßes Mädel oder resche Pratermizzi, hübsche Handschuhmacherin oder kokette Soubrette, sondern über vier Frauen »aus dem anderen Wien«: eine Ziegeleiarbeiterin, eine Puppenspielerin, ein Aktmodell, eine Prostituierte. Die erste verliebt sich unwissentlich in ihren Halbruder, die zweite verliert ihren Freund an eine laszive Konkurrentin, die dritte geht bei der Aufklärung eines Mordfalls fast selber zugrunde, die vierte träumt naiv von einem Neuanfang an der Seite eines Binnenschiffers – krause Geschichten von Begehren und Neid, von Schäbigkeit und Sehnsucht »nach reiner Liebe«. Doch im ungefügten formalen Neben- und Durcheinander von krasser expressionistischer Überzeichnung und schroffem Neoverismus, getrieben von den elektronischen Dissonanzen des Heliophons, bleiben alle vier Frauen verwirrte Kreaturen der Männer (und der Filmemacher), arme Seelen, die kaum Bewußtsein von sich selbst entwickeln (dürfen). Wenn auch die Figuren nur wenig mehr sind als trivial-soziale Schemen, so beweisen Regisseur Kurt Steinwendner und die Kamera­männer Walter Partsch und Elio Carmiel doch gespannte Sensibilität für die Orte des Geschehens: einsame Straßen und öde Industriegebiete, Hafenkais und Friedhöfe, verrußte Wohnungen und zugige Bretterbuden, Silos und Fabriken erwachen – in der bedrückenden Finsternis der Nächte, in der milchigen Helligkeit der Tage – zu desillusioniert-melancholischem Leben.

R Kurt Steinwendner B Kurt Steinwendner K Walter Partsch, Elio Carniel M Paul Kont, Gerhard Bronner S Renate Knitschke P Ernest Müller D Elisabeth Stemberger, Edith Prager (= Edith Klinger), Helmi Mareich, Margit Herzog, Kurt Jaggberg, Karlheinz Böhm | A | 85 min | 1:1,37 | sw | 6. Februar 1952