27.10.76

Mado (Claude Sautet, 1976)

Mado

»Chacun se vend à sa façon«, sagt Mado: Jeder verkauft sich auf seine Weise. Mado (Ottavia Piccolo) verkauft ihren schönen Körper gelegentlich an wohlhabende Herren, unter anderem an den Baulöwen Simon (Michel Piccoli), der im Bett mit der jungen Frau die »Einsamkeit des reichen Mannes« zu vergessen sucht. »Mado« beginnt mit dem Selbstmord von Simons unlauterem Kompagnon und einem Loch von sechs Millionen Francs in der Firmenkasse. Simon, der bislang wert darauf legte, »das Spiel korrekt zu spielen«, sieht sich unversehens genötigt, selbst unfaire Mittel zu ergreifen, um die Aasgeier abzuwehren, die bereits über ihm kreisen … Die Beziehung zwischen dem Großbürger und der Nebenerwerbsprostituierten bildet den roten Faden, der durch ein komplexes Beziehungsgeflecht führt, in dem sich zahlreiche Lebenslinien kreuzen: Da sind (unter anderem) Pierre, der arbeitslose Buchhalter, Manecca, der betrogene Betrüger, Barachet, der korrupte Beamte, Lépidon, der skrupellose Geschäftemacher, und da ist Hélène, die in den Suff gestürzte Dame der Gesellschaft (Romy Schneider). Wieder eine dieser vielstimmigen, vielschichtigen Kompositionen, mit denen Claude Sautet, virtuos wie kein anderer, von den Dingen des Lebens erzählt – »Mado«, ein ungeschöntes Porträt der Wegwerfgesellschaft nach dem Ende des Booms, ein dunkler Film über die Käuflichkeit und über die Raffgier, über vermeintlichen Gewinn und über unvermeidlichen Verlust, gipfelt in einem Ausflug, in dessen Verlauf die genießende Klasse buchstäblich im Schlamm steckenbleibt. Die sarkastische Schlußsequenz wirkt, trotz nahender Rettung bei Sonnenaufgang, wie das Menetekel eines kommenden Systemzusammenbruchs.

R Claude Sautet B Claude Sautet, Claude Néron K Jean Boffety M Philippe Sarde A Pierre Guffroy S Jacqueline Thiédot P André Génovès D Michel Piccoli, Ottavia Piccolo, Jacques Dutronc, Charles Denner, Julien Guiomar, Romy Schneider | F & I & BRD | 121 min | 1:1,66 | f | 27. Oktober 1976

# 770 | 10. September 2013  

L’aile ou la cuisse (Claude Zidi, 1976)

Brust oder Keule 

Für seine Verdienste um die beiden heiligen Kühe Frankreichs – Küche und Sprache – soll Charles Duchemin (Louis de Funès), wortmächtiger Kulinarier und Herausgeber eines berühmten (und von vielen gefürchteten) Restaurantführers, in die Académie française aufgenommen werden. Bevor er, gewandet in den ehrwürdigen habit vert, das traditionelle Festessen im Kreise der ›Unsterblichen‹ genießen kann, muß Duchemin einerseits seinen Sohn und designierten Nachfolger Gérard (Coluche), der ein Doppelleben als Zirkusclown führt, bei der familiären Stange halten, andererseits in einem Fernsehduell die chemisch-industriellen Schweinereien des diabolischen Lebensmittel-Tycoons Jacques Tricatel (Julien Guiomar) ans Licht der Öffentlichkeit bringen. Duchemin gegen Tricatel, das heißt nicht nur ›grande cuisine‹ gegen ›malbouffe‹, sondern ganz allgemein: kulturelle Verfeinerung gegen profitgierige Barbarei. Gerade von einem doppelten Herzinfarkt genesen, wirkt die ewige Krawalltüte Louis de Funès in Claude Zidis satirischer Gastro-Farce etwas schallgedämpft; dem fröhlichen Wahnwitz seiner Reise vom Himmel der Feinschmeckerei in die Hölle der Fertiggerichte und wieder zurück tut dies freilich keinen Abbruch.

R Claude Zidi B Claude Zidi, Michel Fabre K Claude Renoir M Vladimir Cosma A Michel de Broin S Robert Isnardon, Monique Isnardon P Christian Fechner D Louis de Funès, Coluche, Julien Guiomar, Ann Zacharias, Claude Gensac, Marcel Dalio | F | 104 min | 1:2,35 | f | 27. Oktober 1976

# 900 | 4. August 2014

7.10.76

A Matter of Time (Vincente Minnelli, 1976)

Nina – Nur eine Frage der Zeit 

»No one dies unless we wish them to.« In seinen großen Tagen ließ Vincente Minnelli bei MGM die Puppen tanzen; um ein letztes Werk realisieren zu können, schloß der greise Meister einen Pakt mit dem »König des Low-Budget-Films«, Samuel Z. Arkoff, dessen Name nicht umsonst an Graf Zaroff, das Genie des Bösen, erinnert – »A Matter of Time«, vom Produzenten aufs Wüsteste verhackstückt, steht wie eine kurios-anrührende Ruine im Mondlicht der Kinogeschichte. Die Story kreist (besser gesagt: eiert) um die unbedarfte Nina (Liza Minnelli), die als Zimmermädchen in einem verlotterten römischen Luxushotel Freundschaft mit der betagten, geheimnisvoll-umnachteten Contessa Sanziani (Ingrid Bergman) schließt; die Alte entpuppt sich nicht nur als einstmals namhafte Kokotte, die zu ihrer Zeit die reichsten, klügsten und mächtigsten Männer ihrer Epoche um den kleinen Finger wickelte, sie weist dem jungen Ding auch den Weg zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und zum Ruhm als Filmstar… Neben Fragen der Identitätsfindung ist die Vergänglichkeit – der Schönheit, des Erfolges, des Glücks – das zentrale Thema des Films; in zwei, drei hochklassig-schrägen Momenten (etwa wenn die Sanziani schreiend durch ihr schäbiges Zimmer taumelt und es nicht fassen kann, in derart unwürdige Schrecknis geraten zu sein) bricht sich echte Tragik Bahn – ganz so, als sähe der Regisseur das eigene Schicksal im Schlamassel der zerrütteten Weltdame düster gespiegelt. PS: Neben Minnelli geben mit Charles Boyer und Amedeo Nazzari zwei weitere Ehrenmänner der Leinwand ihre Abschiedsvorstellung.

R Vincente Minnelli B John Gay V Maurice Druon K Geoffrey Unsworth M Nino Oliviero A Veniero Colasanti, John Moore S Peter Taylor P Samuel Z. Arkoff, Giulio Sbarigia D Liza Minnelli, Ingrid Bergman, Tina Aumont, Charles Boyer, Amedeo Nazzari | USA & I | 97 min | 1:1,85 | f | 7. Oktober 1976

6.10.76

Marathon Man (John Schlesinger, 1976)

Der Marathon-Mann

»Is it safe?« Nein, ist es nicht. Nichts ist sicher. Gar nichts. Im Bewußtsein dieser existentiellen Gefährdung funktioniert »Marathon Man« auf (mindestens) zwei Ebenen: zum einen als perfekter Thriller, der souverän mit den wesentlichen Ingredienzien des Genres umgeht: Spannung und Schock, Blick in den Abgrund und Flucht in die Tapferkeit; zum anderen als Bild einer Welt, die keine Gewißheit kennt, nur Bedrohung und Angst, Mißtrauen und Lüge. Aus der Konfrontation des früheren KZ-Zahnarztes Christian Szell (teuflisch-starr: Laurence Olivier) und des jungen jüdischen Intellektuellen ›Babe‹ Levy (dynamisch-verkrampft: Dustin Hoffman) – beide auf spezifische Weise Überlebende (sowie Gefangene) ihrer eigenen Biographie und der Zeitgeschichte – destilliert John Schlesinger wiederum (mindestens) zweierlei Resultate: ein bodenloses Kaleidoskop der Paranoia (als aktuellen politischen Kommentar = Nachlese der epochalen ›Watergate‹-Erschütterung) und eine diamantharte Rachephantasie (als historisch-kinematographische Vergeltungsmaßnahme = Auschwitzprozeß à la Hollywood). Formal brillant orchestriert – insbesondere durch Conrad Halls ungerührte Bilder und den eisigen Score von Michael Small – verortet »Marathon Man« das Diesseits im Jenseits einer zerstörerisch fortwirkenden Vergangenheit, in der tristen Ewigkeit von Verbrechen (≈ Schuld) und Strafe (≈ Sühne). PS: »Life can be that simple: relief – discomfort.« Sagt der »weiße Engel«. Und bohrt.

R John Schlesinger B William Goldman V William Goldman K Conrad Hall M Michael Small A Richard Macdonald S Jim Clark P Robert Evans, Sidney Beckerman D Dustin Hoffman, Laurence Olivier, Roy Scheider, William Devane, Marthe Keller | USA | 125 min | 1:1,85 | f | 6. Oktober 1976