25.12.75

Das Netz (Manfred Purzer, 1975)

»Nur Mörder sind heute normal.« Der römische Herbst des Aurelio Morelli: Ein alternder Schriftsteller (Mel Ferrer), ausgeschrieben und abgeschrieben, meutert gegen eine Welt, die er von ganzem Herzen verabscheut, kämpft gegen die »Übermacht der Unreife, des Unrat und der Sittenlosigkeit«, nimmt Rache an den Frauen, an der Jugend, an allem, was er nicht (mehr) versteht. Der aalglatte Journalist Emilio Bossi (Klaus Kinski) wittert die ganz große Story, und sein Verleger erkennt in der Lebensgeschichte des klassisch gebildeten Einzelgängers, der (wenn er nicht gerade Mädchen meuchelt) schon mal atomverseuchte Fische beerdigt oder die Säulen eines Tempels umarmt, das ultimative Dokument einer Zeit der Verunsicherung: Morelli, selbsterklärter Revolutionär gegen alles »Verkommene, Obszöne, Gemeine, Tierische, Gefühllose«, ein Mann, der nach seinen (ohne Lust begangenen) Taten »Stille und ein Gefühl der Freiheit« verspürt, der im Töten wohl den verlorenen Kontakt mit der Wirklichkeit wiederzufinden hofft, ist der gestörte Held einer gestörten Gesellschaft … Marcel Reich-Ranicki erwies Trivialromancier Hans Habe, dem Verfasser der Vorlage, seine Reverenz, als er schrieb, der Autor liefere »Klischees mit individueller Note und mit sorgfältig ausgewählten Verzierungen; er offeriert zwar präfabrizierte Seelen, aber in solider, in allerbester Qualität.« Manfred Purzer (der für Produzent Luggi Waldleitner zuvor zahlreiche Simmel-Bestseller adaptierte) bemüht sich, die kolportagigen Vorzüge des Textes in seiner ersten Regiearbeit zu bewahren; ausgezeichnete Darsteller wie Heinz Bennent (als ermittelnder Kommissar) tragen das Ihre zum unterhaltsamen Gelingen dieser sonderbaren Mischung aus mokanter Charakterstudie und sentimentalem Psychothriller bei.

R Manfred Purzer B Manfred Purzer V Hans Habe K Charly Steinberger M Klaus Doldinger S Ingeborg Taschner P Luggi Waldleitner D Mel Ferrer, Klaus Kinski, Heint Bennent, Susanne Uhlen, Elke Sommer | BRD | 108 min | 1:1,66 | f | 25. Dezember 1975

# 798 | 13. November 2013

18.12.75

Barry Lyndon (Stanley Kubrick, 1975)

Barry Lyndon

»Fate had determined that he should leave none of his race behind him, and that he should finish his life poor, lonely and childless.« … »Barry Lyndon« berichtet von Aufstieg und Fall eines Aufschneiders, Glücksritters und Ehrgeizlings, der sich mit wechselndem Geschick durchs »galante« 18. Jahrhundert schwindelt. (»Gentlemen may talk of the age of chivalry, but remember the ploughmen, poachers and pickpockets whom they lead.«) Stanley Kubricks manische Ambition, die versunkene Ära bis zur letzten Gürtelschnalle perfekt zu rekonstruieren, ist legendär. Indem er historische Gemälde und Grafiken als Vorlagen für die delikate Visualisierung des Stoffes nutzt, rekonstruiert er nicht nur die Zeit, in der die Geschichte spielt, sondern zugleich das Bild, das die vorrevolutionäre Epoche von sich selbst entwarf. Dabei stellt er die beinahe unbegreifliche Schönheit jeder einzelnen Einstellung (Kamera: John Alcott) gegen einen Erzählton von fatalistischer Ironie. Die marionettenhaft agierenden Schauspieler, die erlesenen Kompositionen der Fotografie, die immer wieder von Gewalteruptionen aufgebrochene feierliche Langsamkeit, die strenge Symmetrie der Erzählbewegung, die gnadenlose Einordnung der Figuren in atemberaubende Dekors (Ausstattung: Ken Adam), der raffinierte Einsatz (fast ausschließlich) zeitgenössischer Musik, der süffisante Off-Kommentar schaffen eine hochgradig distanzierende Atmosphäre. »Barry Lyndon« ist bei allem gestalterischen Reichtum ein einmalig frostiger Film, der sich über die tiefe Zerrüttung jener schönen, alten Welt, der er sich zu nähern sucht, keinerlei Illusionen hingibt, ein in jeder Beziehung sin­guläres Werk von höchster filmischer Intelligenz und geradezu furchteinflößender Perfektion, ein spektakuläres Meisterstück des ästhetischen Pessimismus. PS: »Good or bad, handsome or ugly, rich or poor – they are all equal now.«

R Stanley Kubrick B Stanley Kubrick V William Makepeace Thackerey K John Alcott M diverse A Ken Adam S Tony Lawson P Stanley Kubrick D Ryan O’Neal, Marisa Berenson, Patrick Magee, Hardy Krüger, Steven Berkoff | UK & USA | 184 min | 1:1,66 | f | 18. Dezember 1975

20.11.75

Bankett für Achilles (Roland Gräf, 1975)

Karl Achilles (Erwin Geschonneck), langgedienter Werkmeister in einem volkseigenen Chemiebetrieb, geht – nolens volens – in den Ruhestand: mit den technischen Entwicklungen hat er zuletzt nur noch mühsam Schritt halten können, sein knorrig-paternalistischer Führunsstil paßt nicht mehr so recht in die Zeit. Ein Aktivist der ersten Stunde hat seine Schuldigkeit getan. Roland Gräfs still beobachtender, die Alltagsrealität immer wieder poetisch überhöhender Film ist eine Art doppeltes Endspiel über das Altern des Menschen und das Sterben der Natur. Zum einen zeigen Gräf und sein Autor Martin Stephan, mit leisem Humor, den werdenden Pensionär, der an seinem letzten Arbeitstag trotzig Normalität behauptet, um die Gefühligkeiten des unvermeidlichen Abschieds abzuwehren; zum anderen entwerfen sie, ohne Schönfärberei, ein Bild der kaputten Industrielandschaft um Bitterfeld mit ihren Wäldern von gelblich qualmenden Schornsteinen, ihren grauschwarzen Abraumhalden, aus denen kein Pflänzchen mehr sprießt. Achilles träumt davon, eine blaue Blume zu züchten (eine Kreuzung aus Wegwarte und Kornblume), die auf dem toten Boden gedeihen könnte. Seine romantische Sehnsucht erscheint nicht weniger illusorisch als das politisch-administrative Bemühen, die geschundene Erde per Abwurf von Krume und Samen aus dem Hubschrauber zu befruchten.

R Roland Gräf B Martin Stephan K Jürgen Lenz M Gerhard Rosenfeld A Georg Wratsch S Monika Schindler P Uwe Klimek D Erwin Geschonneck, Else Grube-Deister, Jutta Wachowiak, Gert Gütschow, Fred Delmare | DDR | 89 min | 1:1,66 | f | 20. November 1975

# 975 | 4. November 2015

23.10.75

Bis zur bitteren Neige (Gerd Oswald, 1975)

Vor 20 Jahren war Paul Jordan (Maurice Ronet) ein großer Hollywood-Star, dann heiratete er eine reiche Frau (Suzy Kendall), verfiel dem Alkohol, schwängert schließlich seine Stieftochter (Susanne Uhlen). Der abgehalfterte Mime will wieder spielen, um sowohl dem exklusiven Elend wie auch den emotionalen Familienverwicklungen zu entfliehen; er akzeptiert das Angebot eines europäischen Nachwuchsregisseurs, fährt nach Wien, wo er die Hauptrolle in einem Film mit dem beziehungsreichen Titel »Oppression« übernehmen soll … Gerd Oswald, der sich aller formalen Manierismen der frühen Vohrerschen Simmel-Verfilmungen konsequent enthält, und Manfred Purzer, dessen Bearbeitung die im Roman beschriebene lastende Schuld aus der Backstory des Protagonisten tilgt, destillieren aus der sentimentalen Säuferkolportage eine surreal-existenzialistische Studie über Schwermut und Stolz, über Sucht und die Suche nach dem Glück im Vergessen. Ronets erbarmenswert verlebte Weltläufigkeit beschwört in mehr als einer Szene die Erinnerung an seine Performance in Louis Malles Depressionsdrama »Le feu follet« herauf: Ebensowenig wie Alain Leroy taugt Paul Jordan zum Sympathieträger, und erweckt doch in seiner verzweifelten Hilf-, Halt- und Hoffnungslosigkeit, so etwas wie unwillkürliches Mitleid. Der Gegensatz zwischen der kühlen, bisweilen mokanten Distanz der Inszenierung und der eigentümlichen, fast desorientierenden Sprunghaftigkeit des Handlungsverlaufs verbindet anschaulich die Schilderung äußerer und innerer Zustände um und in einem Helden von der besonders traurigen Gestalt.

R Gerd Oswald B Manfred Purzer V Johannes Mario Simmel K Charly Steinberger M Klaus Doldinger A Ernst Wurzer S Lotte Klimitschek P Luggi Waldleitner D Maurice Ronet, Suzy Kendall, Susanne Uhlen, Balduin Baas, Christine Wodetzky | BRD & A | 105 min | 1:1,66 | f | 23. Oktober 1975

# 857 | 16. April 2014

19.10.75

Inside Out (Peter Duffell, 1975)

Ein genialer Bluff

Es war einmal im Zweiten Weltkrieg, da hat ein ranghoher Nazi Gold versteckt, viel Gold, sehr viel Gold, und zwar im Bunker seines Landhauses, irgendwo nördlich von Berlin. 30 Jahre später gehen ein in London residierender Ex-US-Major (glücksritterlich: Telly Savalas), ein Ex-Juwelendieb (berufsjugendlich: Robert Culp), ein Ex-Wehrmachtsoffizier (verkniffen: James Mason) und ein Ex-Landser (verschreckt: Günter Meisner) daran, den Schatz nach allen Regeln der Heist-Kunst zu bergen. Peter Duffell hält sich nicht länger als unbedingt nötig mit historischen, narrativen oder technischen Wahrscheinlichkeiten auf, macht großzügig Gebrauch von glücklichen Zufällen, billiger Trickserei und surrealer Erfindungsgabe – grandiose Klimax: Reinhardt Holtz (Wolfgang Lukschy als Rudolf-Heß-Korrelat) wird für ein paar Stunden aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis (»Siegfried prison«!) entführt, um vollgedrogt in nächtlicher Hakenkreuzkulisse mit einem bellenden Hitler-Wiedergänger konfrontiert zu werden, der ihm, dem verschwitzt dienstfertigen Ex-Bonzen, das güldene Geheimnis entlockt –, damit seine schrägen Helden den ehrgeizigen Plan (diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs) erfolgreich über die Bühne bringen können; so gelingt dem furchtlosen Regisseur, trotz haarsträubender Abschreibungsästhetik und unpassend dudeliger Musikuntermalung, eine Räuberpistole von souveräner Abstrusität

R Peter Duffell B Judd Bernard K John Coquillon M Konrad Elfers A Peter Lamont S Thom Noble P Judd Bernard D Telly Savalas, James Mason, Robert Culp, Günter Meisner, Aldo Ray, Adrian Hoven | UK & BRD & USA | 97 min | 1:1,85 | f | 19. Oktober 1975

# 1079 | 11. Oktober 2017

15.10.75

L’incorrigible (Philippe de Broca, 1975)

Der Unverbesserliche

Kaum aus dem Gefängnis entlassen, geht Victor Vauthier (ungehemmt: Jean-Paul Belmondo) schon wieder seinen zwielichtigen Geschäften nach. Ob er zum x-ten Mal das Luxusappartement einer betuchten Geliebten verscherbelt oder nichtexistierende Waffen an kriegslüsterne afrikanische Generäle losschlägt, vor keiner Escroquerie schreckt der spitzbübische Lebenskünstler zurück. Gleich Fantômas ein Meister der Maske, liegt dem charmanten Tausendsassa jedoch jede Bosheit fern. Philippe de Broca zeigt den professionellen Bluff als genuines Lebensmodell im entwickelten Kapitalismus und präsentiert mit Victor nicht nur einen turbomotorisch-unverbesserlichen Hochstapler und fröhlich-asozialen Trickbetrüger sondern vor allem einen erfindungsreichen Impressario des eigenen Lebens und fantasievollen Verführer, dessen famose Gaunereien auch scheinbar gefestigte Charaktere in halbseidene Welten zu entführen vermögen – wie zum Beispiel die pflichteifrige Bewährungshelferin Marie-Charlotte Pontalec (Geneviève Bujold), die eher zufällig, aber durchaus geneigt die Freuden der Gesetzlosigkeit entdeckt. Die kriminelle Erweckung der jungen Frau ist – Ironie des schwindlerischen Schicksals! – zugleich der Moment, da der Mann für alle Fälle an die Grenzen seines Improvisationstalents stößt.

R Philippe de Broca B Michel Audiard, Philippe de Broca V Alex Varoux K Jean Penzer M Georges Delerue A François de Lamothe S Françoise Javet P Alexandre Mnouchkine, Georges Dancigers, Jean-Paul Belmondo D Jean-Paul Belmondo, Geneviève Bujold, Julien Guiomar, Charles Gérard, Capucine, Andréa Ferréol | F | 100 min | 1:1,66 | f | 15. Oktober 1975

# 1004 | 16. Mai 2016

10.10.75

Lisztomania (Ken Russell, 1975)

Lisztomania

Der Begriff ›Lisztomania‹ ist die (zeitgenössische) Beschreibung des entfesselten, stark erotisch aufgeladenen Fankults um den Pianisten Franz Liszt, der Mitte des 19. Jahrhunderts, lange vor den notorischen Zelebritäten der Pop- und Rockmusik, die Konzertsäle Europas zum Kochen brachte. Ken Russells »Lisztomania« synthetisiert aus historisch-biographischen Versatzstücken ein ausschweifend-anachronistisches Kitsch’n’Glam-Spektakel über den Künstler als mediale Skulptur, über die geilen Triebe der Kulturindustrie. Aus der Familiengeschichte des Tastenstars (Liszts Tochter Cosima heiratete den Komponisten Richard Wagner) leitet Russell – in kühner Verschmelzung der spezifischen Qualitäten von Leni Riefenstahl, Arthur Freed und Mel Brooks – zudem eine grellbunte Reflexion über die Verwandtschaft musikalischer und politischer Massenphänomene ab: Schwärmerei und Wollust, Ekstase und Hysterie, Sensation und Skandal, Mythos und Wahn bestimmen in beiden Fällen die Interaktion zwischen Bühne und Publikum. Auf dem Höhepunkt des Films exorziert der geschäftstüchtige Gefühlsmensch und lässige Weiberheld Liszt (›The Who‹-Frontmann Roger Daltrey) seinen fanatisch-dämonischen Schwiegersohn Wagner (Paul Nicholas), der mit Hilfe opiatischer Klänge einen teutonischen Übermenschen als Anführer der kommenden Herrenrasse kreiert – die Musik (= Politik) der (auch körperlichen) Liebe triumphiert über die Politik (= Musik) der (auch geistigen) Zerstörung: »I'm gonna live in peace at last, / Forgiven for my past … / Peace at last.«

R Ken Russell B Ken Russell K Peter Suschitzky M Rick Wakeman A Philip Harrison S Stuart Baird P Roy Baird, David Puttnam D Roger Daltrey, Sara Kestelman, Paul Nicholas, Fiona Lewis, Veronica Quilligan | UK | 103 min | 1:2,35 | f | 10. Oktober 1975

24.9.75

Black Moon (Louis Malle, 1975)

Black Moon

»She has a very vivid imagination.« Es war einmal in naher Zukunft. Zwischen Männern und Frauen herrscht Krieg; auf der Flucht vor den brutalen Kampfhandlungen gerät die junge Lily (Cathryn Harrison) in ein (merklich von Lewis Carrol inspiriertes) phantasmagorisches Wunderland, das von einer bettlägerigen Alten (Therese Giehse) beherrscht wird (wenn sie nicht gerade tot ist). Diese sonderbar-sonnenlose Gegenwelt – ein labyrinthisches (Alp-)Traumhaus mit verwunschenem Garten – bevölkern zungenredende Ratten und sprechende Fabelwesen, die schweigsam-inzestuösen Zwillinge Lily und Lily (Alexandra Stewart und Joe Dallesandro) sowie eine Schar von nackten Kindern, die sich mit Schafen und Schweinen tummeln (wenn sie nicht gerade Wagner-Arien singen) ... Aus Louis Malles Versuch, die ›écriture automatique‹ der Surrealisten mit den Mitteln des Kinos fortzusetzen, entspringt ein visuell faszinierender Assoziationsfluß von unergründlicher Metaphrik und bizarrer Komik. Die entschiedene Absage an psychologische Figurenzeichnung und erzählerische Logik erzeugt gleichermaßen ratloses Kopfschütteln und anregende Befremdung. PS: »Have you seen a unicorn?«

R Louis Malle B Louis Malle, Ghislain Uhry, Joyce Buñuel K Sven Nykvist M diverse A Ghislain Uhry Ko Jeannine Vergne S Suzanne Baron P Claude Nejar D Cathryn Harrison, Therese Giehse, Alexandra Stewart, Joe Dallesandro | F & BRD | 100 min | 1:1,66 | f | 24. September 1975

# 1195 | 11. Juni 2020

Three Days of the Condor (Sydney Pollack, 1975)

Die drei Tage des Condor

»Three Days of the Condor« leuchtet nicht nur in die Schattenbereiche des geheim(dienstlich)en Ameri­ka, der Film entwirft das definitive Bild der Spionage als Spiel – Spiel der Möglichkeiten, der Manipulation, der Kontrolle, des Verrats. Sydney Pollack, der gute Mensch von Hollywood, portraitiert eine Figur, die nicht mehr mitspielen will: Joe Turner (Robert Redford) – ein subalterner CIA-Angestellter, der zufällig auf die Spur einer von der Zentrale ausgeheckten Riesenschweinerei stößt – versucht das (sein? unser?) Blatt zu wenden, indem er mitten in der Partie die Regeln ändert. Ob es ihm gelingt? Die Frage bleibt offen, muß offen bleiben, in einem novembertrüben Geschäft, in dem längst nicht mehr das »Warum?« interessiert, sondern das »Wann?«, das »Wo?«, in jedem Fall aber das »Wieviel?«.

R Sydney Pollack B Lorenzo Semple Jr., David Rayfiel V James Grady K Owen Roizman M Dave Grusin A Stephen B. Grimes S Don Guidice P Stanley Schneider D Robert Redford, Faye Dunaway, Cliff Robertson, Max von Sydow, John Houseman | USA | 117 min | 1:2,35 | f | 24. September 1975

8.8.75

Farewell, My Lovely (Dick Richards, 1975)

Fahr zur Hölle, Liebling

»What a world.« Er bräuchte einen Drink, er bräuchte eine Lebensversicherung, er bräuchte Urlaub ... und alles, was er hat, sind ein Mantel, ein Hut und eine Knarre. Dick Richards (zu Ruhm gekommen als Fotograf und Werbefilmer) nutzt Chandlers unerhört verwickelte Geschichte des (doppelten) Abschieds von einem Leben und von einer Liebe als Vorlage für eine melancholisch-süffisante (und ziemlich stylishe) Retro-Noir-Etüde, deren (alp-)traumhafte Stimmung sich vor allem einem sinnlich-coolen Jazz-Score (David Shire), den dunkel-nostalgischen Technicolor-Bildern (John A. Alonzo) und ihrem Hauptdarsteller verdankt: Robert Mitchum, legendärer Star schwarzer Kino-Klassiker wie »Out of the Past«, »Angel Face« oder »The Night of the Hunter«, wird in der Rolle des nicht minder legendären Hardboiled-Detektivs zum leibhaftigen Wiedergänger einer fernen Epoche, dessen Erscheinen die hochpolierte Pulpstory um eine verschwundene Perlenkette und eine verschwundene Frau in die Vision einer verschwundenen Welt verwandelt, die sich bei aller nostalgischen Verklärung als genau so korrupt und desolat erweist wie die Ära von Vietnam und Watergate. So wird Richards’ Adaption – trotz der wie in Dmytryks 1944er-Fassung vorgenommenen Simplifizierung der Vorlage – zu einer Art filmischem Doppelspiegel, der Stimmungen und Mentalitäten von Vergangenheit und Gegenwart zu einem irisierenden Bild zusammenfließen läßt. »I wished it was part of my nightmare, but it wasn’t.«

R Dick Richards B David Zelag Goodman V Raymond Chandler K John A. Alonzo M David Shire A Dean Tavoularis S Joel Cox, Walter Thompson P Jerry Bruckheimer, George Pappas D Robert Mitchum, Charlotte Rampling, Jack O’Halloran, John Ireland, Sylvia Miles | USA | 95 min | 1:1,85 | f | 8. August 1975

# 1147 | 2. Februar 2019

7.7.75

Mutter Küsters’ Fahrt zum Himmel (Rainer Werner Fassbinder, 1975)

»Ich fühle mich so einsam, so von allen verlassen.« In gewisser Hinsicht wirkt Rainer Werner Fassbinders galliges Soziodrama (dessen Titel auf einen proletarischen Filmklassiker der späten 1920er Jahre anspielt) wie ein Gegenstück zum ein Jahr zuvor entstandenen »Faustrecht der Freiheit«: Ging der treuherzige Münchner Lottokönig Franz Bieberkopf daran zugrunde, sein Glück mit anderen Menschen teilen zu wollen, muß die Frankfurter Arbeiterwitwe Emma Küsters (Brigitte Mira) – deren von Entlassung bedrohter Ehemann einen Vorgesetzten umbrachte, bevor er sich selbst tötete –, hilflos erleben, wie ihr Unglück emotional übergangen, kommerziell ausgebeutet, politisch instrumentalisiert wird. Sohn und Schwiegertochter verlassen die gemeinsame Wohnung, ein vermeintlich mitfühlender Journalist schreibt einen hetzerischen Artikel, die Tochter nutzt den Skandal, um ihre Karriere als Sängerin zu befördern, Salonkommunisten schlachten die Affäre ideologisch aus, ein Trupp von Anarchisten benutzt den Fall als Vorwand für eine revolutionäre Aktion. Eine einmalige Galerie schwächlicher, gleichgültiger, berechnender Figuren veranschaulicht Fassbinders Argwohn gegenüber allen (insbesondere linken) Versprechungen auf gesellschaftliche Veränderung, während Mutter Küsters’ unbefangene Menschlichkeit unter den herrschenden Verhältnissen zu blinder Naivität gerinnt. Der unweigerlich traurige Ausgang der Erzählung wird lakonisch auf eingeblendeten Schrifttafeln verkündet. PS: Die amerikanische Fassung des Films endet unverhofft happy. Fauler Kompromiß? Beißende Satire? Höhere Ironie?

R Rainer Werner Fassbinder B Rainer Werner Fassbinder, Kurt Raab K Michael Ballhaus M Peer Raben A Kurt Raab S Thea Eymèsz P Rainer Werner Fassbinder D Brigitte Mira, Ingrid Caven, Karlheinz Böhm, Margit Carstensen, Irm Herrmann, Gottfried John | BRD | 120 min | 1:1,37 | f | 7. Juli 1975

# 1008 | 14. Juli 2016

18.6.75

Der dritte Grad (Peter Fleischmann, 1975)

»Von Geburt an ist der Mensch auf der Reise durch ein dunkles Labyrinth, auf einer Reise, deren Sinn er nicht begreifen kann.« Peter Fleischmanns lichtdurchflutet-finstere deutsch-französisch-italienischen Co-Produktion bietet europäisches Paranoia-Kino vom Feinsten: »Der dritte Grad« alias »La faille« (≈ die Verwerfung) alias »La smagliatura« (≈ die Laufmasche) spielt in einem ungenannt bleibenden totalitären Staat (gedreht wurde in Griechenland, das kurz zuvor die Ketten einer brutalen Militärjunta gesprengt hatte), wo ein unbescholtener (?) Bürger vom Fleck weg verhaftet wird und in die Mühlen des krakenhaften Geheimdienstapparates gerät … »Regierungen sind vergänglich, die Polizei bleibt. Wir machen keine Politik, wir organisieren die Welt«, verkündet der Direktor der klandestinen Behörde, und auch der Film selbst hat an Politik im landläufigen Sinne kein sonderliches Interesse, durchleuchtet vielmehr die gesellschaftliche Wirkungsweise des Strebens nach Ordnung, nach Kontrolle, nach Durchleuchtung, erforscht ein staatliches (≈ organisatorisches) Ideal von Harmonie, in dem Individualität, eigenes Ermessen und Geheimnis nicht nur keinen Platz haben, sondern (jenseits von Ideologie und Meinung) als zersetzende Elemente bis aufs Blut bekämpft werden müssen. Fleischmann, ansonsten eher ein kinematographischer Amokläufer, erzählt gefährlich-leise, schlüssig-diszipliniert, inszeniert mit effizienter Lakonie und kafkaesker Komik; Michel Piccoli, Ugo Tognazzi und Mario Adorf verleihen den Schachfiguren dieser klugen, paradigmatisch-abstrakten Versuchsanordung annähernd menschliche Züge; Ennio Morricone trägt mit seinem thrilleresk-minimalistischen Soundtrack nachhaltig zur filmischen Beunruhigung bei.

R Peter Fleischmann B Peter Fleischmann, Jean-Claude Carrière, Martin Walser V Antonis Samarakis K Luciano Tovoli M Ennio Morricone A Dionyssis Fotopoulos S Claudine Bouché P Peter Fleischmann, Véra Belmont, Raymond Danon, Jacques Dorfmann, Michel Piccoli D Michel Piccoli, Ugo Tognazzi, Mario Adorf, Adriana Asti, Dinos Starenios | BRD & F & I | 111 min | 1:1,66 | f | 18. Juni 1975

30.5.75

Faustrecht der Freiheit (Rainer Werner Fassbinder, 1975)

»Eine wunderschöne Romanze: der Unternehmer und die Lottokönigin.« Auf die Frage, was er tue, wenn er einen Menschen liebe, antwortet Bertolt Brechts Herr Keuner, er mache einen Entwurf von ihm und sorge dafür, daß er ihm ähnlich werde – der Mensch, nicht der Entwurf. In Rainer Werner Fassbinders »Faustrecht der Freiheit« geht der naiv-sensible Homoprolo Franz Bieberkopf, der durch einen Glückstreffer zu Reichtum kommt, noch einen Schritt weiter: Er macht einen Entwurf von der Liebe (Vertrauen, Solidarität, eine Prise gutmütiger Provokation) und unternimmt alles, damit ihm das Leben ähnlich werde. Der Versuch schlägt fehl – die Verhältnisse, sie sind nicht so. Großzügigkeit (in emotionalen wie finanziellen Angelegenheiten), so Prämisse und Erkenntnis dieser eigentümlichen Zweckehe von ironisch-trostlosem Lehrstück und opernhaft-schwulem Melodram, wird als ebenjene Dummheit, die sie in der kapitalistischen Gesellschaft nun einmal ist, verstanden und entsprechend (aus-)genutzt. Die überraschungsfreie Geradlinigkeit der Erzählung erscheint als Schwäche und Stärke gleichermaßen: Zu keinem Zeitpunkt des Geschehens kann am Ausgang der Moritat gezweifelt werden – Spannung bleibt mithin aus; genau dieser Umstand erlaubt jedoch das präzise topographische Studium einer Gefühlslandschaft, die sich von den scheinfriedlichen Tälern der Illusion bis zu den Gipfeln des ausbeuterischen Verrats erstreckt. PS: »Es gibt Leute, die sich waschen, und andere, die sind sauber.« – »Und dann gibt es wieder Leute, die stinken, obwohl sie sauber sind.«

R Rainer Werner Fassbinder B Rainer Werner Fassbinder, Christian Hohoff K Michael Ballhaus M Peer Raben A Kurt Raab S Thea Eymèsz P Rainer Werner Fassbinder D Rainer Werner Fassbinder, Peter Chatel, Karlheinz Böhm, Adrian Hoven, Ulla Jacobsson | BRD | 123 min | 1:1,37 | f | 30. Mai 1975

21.5.75

The Return of the Pink Panther (Blake Edwards, 1975)

Der rosarote Panther kehrt zurück

»To Catch a Thief« revisited: Wieder einmal wird der hochkarätige ›Pink Panther‹ entwendet; wieder einmal nimmt Inspektor Clouseau (ein Meister der grotesken Maske: Peter Sellers) die kriminalistische Fährte des ›Phantoms‹ auf, die (behäbig) durch den Mittleren Osten, an die Côte d’Azur, in die Schweizer Alpen mäandert; wieder einmal in Verdacht gerät Sir Charles Lytton (leider nicht von Grandseigneur David Niven sondern von Ersatz-Beau Christopher Plummer gespielt), der diese Unterstellung aus der Welt zu schaffen gedenkt, indem er den wahren Täter faßt; wieder einmal gehen zahllose Inneneinrichtungen zu Bruch, fliegen Fetzen, reißen Nerven. Zunehmend wichtiger als die (umständlich verdoppelte) Ermittlung wird jedoch das Geschehen auf dem Nebenkriegsschauplatz, wo Clouseaus haßerfüllt-mörderischer Vorgesetzter Dreyfus (mit irrem Lidflattern: Herbert Lom) seinem kreativ-destruktiven Untergebenen (erfolglos) nach dem Leben trachtet … Solange Blake Edwards sich auf die anarchische Präzision seines Hauptdarstellers verläßt, funktioniert »The Return of the Pink Panther« vorhersehbar gut, in den (viel zu breiten) erzählerischen Zwischenräumen herrschen indes komödiantischer Leerlauf und (gehobener) formaler Durchschnitt. PS: »Compared to Clouseau, Attila the Hun was a Red Cross volunteer!«

R Blake Edwards B Blake Edwards, Frank Waldman K Geoffrey Unsworth M Henry Mancini A Peter Mullins S Tom Priestley P Blake Edwards D Peter Sellers, Christopher Plummer, Catherine Schell, Herbert Lom, Burt Kwouk | UK | 113 min | 1:2,35 | f | 21. Mai 1975

18.5.75

French Connection II (John Frankenheimer, 1975)

French Connection II

Drogencop ›Popeye‹ Doyle gerät unter die Froschfresser. John Frankenheimers Fish-out-of water-Thriller liefert zum einen die souveräne Fortsetzung von William Friedkins brillanter Vorgabe (der gleiche reportagehafte Zugriff auf die Handlung, die gleiche physische Präsenz der Akteure, die gleiche vibrierende Sensibilität für den Ort des Geschehens – in diesem Fall das sommerlich-abweisende Marseille), andererseits läßt »French Connection II« noch mehr Raum für die Persönlichkeitsstudie des obsessiven Protagonisten. Die Action tritt in den Hintergrund zugunsten der wahnsinnigen one man show von Gene Hackman, die in einer rund halbstündigen Sequenz gipfelt, in der ›Popeye‹ – von den Dealern gekidnappt – mit Heroin vollgespritzt wird, um anschließend von seinem französischen Kollegen (kantig: Bernard Fresson) auf den kalten Entzug geschickt zu werden. Fernando Rey gibt einmal mehr den vornehm-unterkühlten Widersacher, die fast 90jährige Cathleen Nesbitt imponiert in einer anrühend-geisterhaften Nebenrolle (›The Old Lady‹ – mit zerstochenen Armen). Der lapidare Schluß des Films schafft ohne jeden emotionalen Überschwang endgültige Fakten. Un point c’est tout.

R John Frankenheimer B Alexander Jacobs, Robert Dillon, Laurie Dillon K Claude Renoir M Don Ellis A Jacques Saulnier S Tom Rolf P Robert L. Rosen D Gene Hackman, Fernando Rey, Bernard Fresson, Cathleen Nesbitt, Philippe Léotard | USA | 119 min | 1:1,85 | f | 18. Mai 1975

7.5.75

The Day of the Locust (John Schlesinger, 1975)

Der Tag der Heuschrecke

»I hope you'll be very happy here.« Hollywood in den späten 1930er Jahren: Eine falschblonde Komparsin (billig: Karen Black), ein abgehalfterter Komiker (schmuddelig: Burgess Meredith), ein verklemmter Buchhalter (explosiv: Donald Sutherland), ein hochfliegender Szenenbildassistent (eigenschafttslos: William Atherton) tragen ihr Talent (und ihre Haut) auf den Markt der Lügen, träumen vom (früheren oder kommenden) Erfolg, hoffen auf das Glück, auch wenn sie vorgeben, nicht (mehr) daran zu glauben. Für diese (und andere) Lohnarbeiter der Traumfabrik funkelt der Glamour nur in weiter Ferne, das Verhängnis aber wohnt im schäbigen Apartment nebenan … John Schlesinger erzählt (nach einem Roman von Nathanael West) keine straff durchorganisierte Geschichte, er beobachtet eine Vielzahl von einander nur äußerlich, fast widerstrebend berührenden (Einzel-)Schicksalen im Zeitalter der Massen(-Medien), arrangiert Vignetten, Intermezzi, Randnotizen zu einem brüchigen Epos des Talmi, verdichtet fast unmerklich die psychologische Spannung, bis sich die aufgestauten Emotionen in einer visionären Orgie der Zerstörung entladen: »Sunset Blvd.« meets »Zabriskie Point«. Conrad Halls delikate Bilder schimmern zunächst im warmen Sepiaton der Nostalgie, verdorren dann zum staubigen Braungrau der Desillusion, um im apokalyptischen Schlußkapitel endlich grell aufzuflammen. Die ungewöhnliche filmische Melange aus Groteske und Poesie, aus beklemmendem Naturalismus und surrealistischer Kritik des amerikanischen (Alp-)Traums sichern »The Day of the Locust« eine höchst achtbare Sonderstellung zwischen Mainstream und Experiment.

R John Schlesinger B Waldo Salt V Nathanael West K Conrad Hall M John Barry A Richard Macdonald S Jim Clark P Jerome Hellman D Donald Sutherland, Karen Black, Burgess Meredith, William Atherton, Geraldine Page | USA | 144 min | 1:1,85 | f | 7. Mai 1975

9.4.75

Peur sur la ville (Henri Verneuil, 1975)

Angst über der Stadt

Körper in Angst, Körper in der Stadt – »Peur sur la ville« ist hochgradig triebhaftes, rein physisches, entschieden urbanes (Action-)Kino. Die Stadt ist Paris: funkelnd, vibrierend, gewaltig. Die männlichen Körper sind: ein obsessiver Kriminalist, ein psychopathischer Serienmörder, ein rücksichtsloser Schwerverbrecher – Kraft, die sinnlos waltet. Die weiblichen Körper sind: eine lustige Witwe, eine offenherzige Krankenschwester, ein geschäftstüchtiger Pornostar – Fleisch, das zum Verzehren einlädt. Schrecken verbreitet ein sexuell gekränkter Mann, der Frauen umbringt, weil er anders nicht über sie verfügen kann; gehetzt wird er von einem professionell gekränkten Polizisten, dessen unbeherrschter Rachedurst Angst macht – gespalten-frustrierte Charaktere, würdige Gegner. Die Story ist forciert bis zur Groteske, Henri Verneuil erzählt sie direkt bis zur Vulgarität, borgt beim Poliziottesco den einzelgängerischen tough cop (Jean-Paul Belmondo als lederbejackter Kommissar Letellier) und beim Giallo den weiberhassenden Totmacher (Adalberto Maria Merli als glasäugiger Killer ›Minos‹), inszeniert virtuose Verfolgungsjagden durch Straßen und über Dächer, durch U-Bahnhöfe und über die Dächer von Métro-Zügen. Ein dissonant-treibender Morricone-Score hält den Pulsschlag dieser schmutzigen Perle des französischen Genrefilms bis zum finalen Schlagabtausch auf hoher Frequenz.

R Henri Verneuil B Henri Verneuil, Francis Veber, Jean Laborde K Jean Penzer M Ennio Morricone A Jean André S Pierre Gillette, Henri Lanoë P Jean-Paul Belmondo D Jean-Paul Belmondo, Charles Denner, Adalberto Maria Merli, Rosy Varte, Léa Massari | F & I | 125 min | 1:1,85 | f | 9. April 1975

26.3.75

Les innocents aux mains sales (Claude Chabrol, 1975)

Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen

Sie solle nicht vergessen, sagt, kurz vor Schluß des Films, der alerte Rechtsanwalt Légal (!) (Jean Rochefort) zu seiner Mandantin Julie Wormser (Romy Schneider), daß sie in einer Männerwelt lebe, mit Gesetzen, die von Männern für Männer gemacht wurden. Was dies bedeutet, hat Julie erlebt, in einem bizarren Psychothriller, der die Noir-Implikationen der klassischen Konstellation »reicher Mann – schöne Ehefrau – junger Liebhaber« als manieristische Travestie variiert. Claude Chabrol zeigt seine Protagonistin (im übrigen die buchstäblich einzige Frau in der Erzählung), Gattin eines aufs luxuriöse Altenteil retirierten Unternehmers und impotenten (?) Alkoholikers (Rod Steiger), schwankend zwischen skrupelloser Ungerührtheit und lähmender Verstörung, als vermeintliche Femme fatale, die auch dann, wenn sie glaubt, selbstbestimmt zu handeln, nur Spielball männlicher Machenschaften ist. Studierte er eine ähnliche Versuchsanordnung in seinem Meisterwerk »Le femme infidèle« mit beherrschter Subtilität, verbindet Chabrol in diesem Fall fantastische Handlungsumschwünge und schräge Schauereffekte, artifizielle Mittelmeerkulissen und nachtschwarzen Humor zu einem kriminalistischen (Geschlechter-)Soziogramm der exzentrischen Art.

R Claude Chabrol B Claude Chabrol V Richard Neely K Jean Rabier M Pierre Jansen A Guy Littaye S Jacques Gaillard P André Génovès D Romy Schneider, Rod Steiger, François Maistre, Jean Rochefort, Hans Christian Blech | F & I & BRD | 120 min | 1:1,66 | f | 26. März 1975

# 1109 | 10. Mai 2018

19.3.75

Tommy (Ken Russell, 1975)

Tommy

»See me, / feel me, / touch me, / heal me.« Krauses Pop-Passionspiel, das als »Rock Opera« firmiert: Der kleine Tommy Walker muß den Totschlag des unerwartet aus dem Krieg heimkehrenden Vaters durch Mutter (Ann-Margret) und deren Lover (Oliver Reed) miterleben; zum Nichtsgesehenhaben, Nichtsgehörthaben und Nichtssagen verdonnert, flüchtet der Junge mit kindlicher Konsequenz in weltvergessene Blind-, Taub- und Stummheit. Von Verwandten mißbraucht, von Kurpfuschern malträtiert, reift Tommy zum Manne (jesuslockig: Roger Daltrey) – und stößt unverhofft auf ein außerordentliches, tief in ihm schlummerndes Talent: Als autistischer Flipper-Star erobert er den Beifall, nach schockartiger Genesung auch die Seelen der heilsbedürftigen (All-)Gemeinheit – für einen kurzen Moment jedenfalls … Die christlichen Bezüge des »The Who«-Stücks sind so markant (und so durchsichtig) wie die satirischen Vergleiche von Gottesreich und Kulturindustrie. Ken Russell läßt mit »Tommy« eine disparate Nummernrevue (deftige Soli von Eric Clapton, Tina Turner, Elton John, Jack Nicholson und anderen) über die glitzernde Bühne gehen, die sich keinerlei formale Zügel auferlegt, die soziale Analyse zugunsten des visuellen Kicks jederzeit hintanstellt, die ihre Kritik an der Veräußerlichung von Befähigung, von Menschlichkeit, von Liebe in einem hektischen, grotesken, aufmerksamkeitsheischenden Bilderschwall selbst radikal veräußerlicht.

R Ken Russell B Ken Russell V Pete Townshend K Dick Bush, Ronnie Taylor M The Who A John Clark S Stuart Baird P Ken Russell, Robert Stigwood D Roger Daltrey, Ann-Margret, Oliver Reed, Elton John, Tina Turner | UK | 111 min | 1:1,85 | f | 19. März 1975

14.3.75

Falsche Bewegung (Wim Wenders, 1975)

Ein junger Mann will Schriftsteller werden. Seine Mutter schickt ihn auf eine Reise, damit er etwas erlebe und – vielleicht – sich selber entdecke. Unterwegs trifft er einen mundharmonikaspielenden Alten und ein stummes Mädchen, eine ätherische Schauspielerin und einen beleibten Poeten, einen traurigen Industriellen und, tatsächlich, sich selbst: einen, der schreiben will, ohne zu wissen worüber, der lieben will, ohne zu wissen wen, der teilhaben möchte, ohne dabeizusein … Wim Wenders, der filmen will, ohne zu erzählen, läßt sich von Peter Handke aus Goethes Bildungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« 100 bundesrepublikanische Minuten destillieren, ergeht sich in romantischem Weltschmerz und beziehungsängstlicher Seelenqual, in poetisierter Vergangenheitsbewältigung und zeitgeistiger Befindlichkeit. Integrales Moment der Gefühlsforschungsfahrt ist die Sicht auf das per Bahn und Auto durchquerte Terrain: (West-)Deutschland von Glückstadt im Norden bis zur Zugspitze im Süden, dazwischen Hamburg, Bonn, Frankfurt. Wenders, das ist zu spüren, möchte auf dieses Deutschland mit deutschen Augen sehen, so wie Ford als Amerikaner auf Amerika sah, oder Ozu als Japaner auf Japan. Dennoch entsteht der Eindruck, als läge eine gewisse Trauer in der Erkenntnis, daß der Blick nicht auf das Monument Valley oder in eine Tokioter Seitenstraße fällt, sondern auf die Norddeutsche Tiefebene und in das enge Rheintal, in winklige Gäßchen und auf trostlose Schlafstädte. Selbst das freie Panorama über sonnige Alpengipfel, das sich dem Wanderer am Ende der Reise bietet, kann als Bild der Versäumnis interpretiert werden, als zufälliger Schlußpunkt einer »falschen Bewegung«. In ebendieser (von Larmoyanz nicht immer zu unterscheidenden) Trauer über die eigene, unbefriedigende, als aufgenötigt empfundene Identität ist vermutlich das »Deutsche« des Films zu suchen und – vielleicht – zu finden.

R Wim Wenders B Peter Handke V Johann Wolfgang von Goethe K Robby Müller M Jürgen Knieper A Heidi Lüdi S Peter Przygodda P Bernd Eichinger, Peter Genée D Rüdiger Vogler, Hanna Schygulla, Hans-Christian-Blech, Nastassja Kinski, Peter Kern | BRD | 104 min | 1:1,66 | f | 14. März 1975

7.3.75

Serkalo (Andrei Tarkowski, 1975)

Der Spiegel

Bewußtseinsstrom? Privatmythologie? Reflexion? Mystizismus? Der Wald. Das Wasser. Der Wind. Das Zimmer. Das Buch. Die Kunst. Frauen mit Dutt, die in die Landschaft sehen. Scheunen, die im Regen brennen. Gedichte, die durch die Räume der Erinnerung schweben. Mütter, die wie Ehefrauen aussehen, die wie Mütter aussehen, die wie Ehefrauen aussehen. Väter, die Söhne zurücklassen, die zu Vätern werden, die Söhne zurücklassen. Söhne, die stottern, und die sich als Männer mit ihren Frauen streiten, und die sich irgendwann zum Sterben legen und dann an ihre Mütter denken, die in die Landschaft sehen, und an ihre Väter, von denen sie zurückgelassen wurden. Das Rad, es dreht sich, es dreht sich immer im selben Matsch, im Matsch der großen Geschichte, durch die sich das Schicksal des Einzelnen (des Vereinzelten) quält: durch allgegenwärtigen Krieg und durch die bodenlose Angst unter den starren Augen jener, deren Name nicht genannt werden darf, durch den Strom der aufgehetzten Massen und durch die Drohung mit endgültiger Vernichtung. Und das Innere, das Ich ist ein Spiegel des Äußeren, der Welt, und das Äußere, die Welt ist ein Spiegel des Inneren, des Ichs, und das Leben ist ein Sprung in den Brunnen der Zeit, und die Zeit steht still in der Ewigkeit der Schöpfung, und sie rast durch Grotten, die kein Mensch ersann, zum sonnenlosen Meer, und die Seele ist ein Gespinst von Reminiszenzen und Träumen, von Phantasien und Illusionen, und der Glaube ist ein Kelch auf einem Tisch, und die Liebe ist eine Frau mit einem Kind, und die Hoffnung ist ein Vogel, der auffliegt aus einer Hand. Bewußtseinsstrom. Privatmythologie. Reflexion. Mystizismus. Tarkowski.

R Andrei Tarkowski B Andrei Tarkowski, Alexander Mischarin, Arseni Tarkowski (Gedichte) K Georgi Rerberg M diverse A Nikolai Dwigubski S Ljudmila Feiginowa P Mosfilm D Margarita Terechowa, Ignat Danilzew, Larissa Tarkowskaja, Anatoli Solonizin, Oleg Jankowski | SU | 108 min | 1:1,37 | sw & f | 7. März 1975

18.2.75

Professione: reporter (Michelangelo Antonioni, 1975)

Beruf: Reporter

»People disappear every day.« – »Every time they leave the room.« Die Handlung des Thrillers, behauptet Georg Seeßlen, sei eine umgekehrte Form der Befreiung, eine Befreiung, die erzwungen wird. Michelangelo Antonioni verfolgt in seiner Polit- und Paranoia-Thriller-Variation einen anderen Ansatz: nicht die Befreiung des Protagonisten wird erzwungen, sondern die Unmöglichkeit der Befreiung konstatiert. Der britische Journalist David Locke (Jack Nicholson), in der Sahara auf der glücklosen Jagd nach einer Story über den Kampf zwischen Rebellen und Regierungstruppen, nutzt die Gelegenheit, seiner ungeliebten Existenz zu entfliehen, indem er die Identität eines plötzlich verstorbenen Hotelnachbarn annimmt und Hinweisen im Taschenkalender des Mannes folgt, der, wie sich alsbald zeigt, als Waffenhändler im Auftrag der Freischärler tätig war. Antonioni und sein Autor Mark Peploe verarbeiten, freilich in beklemmender Zerdehnung, die klassischen Zutaten des Genres – illegale Geschäfte, verschwörerische Machenschaften, konspirative Treffen, heimliche Verfolgung –, und der Hauch einer Erinnerung an Alfred Hitchcocks »North by Northwest« schwebt über Lockes Nachforschung, Flucht, Passage, die ihn, in Begleitung einer mysteriösen Frau ohne Namen (Maria Schneider), aus der nordafrikanischen Wüste, über London, München und Barcelona, in ein karstiges Andalusien führt, das dem Ausgangspunkt dieser Reise ans Ende des Tages auf blendend-unheimliche Weise ähnelt. Weglaufen endet im Nichts, ein anderes Selbst bietet keine anderen Möglichkeiten, die Lösung eines Rätsel liegt jederzeit und allerorts in gleich weiter Ferne, so aussichtslos wie Befreiung erscheinen Erkenntnis und Verständigung: »Your question are much more revealing about yourself than my answer would be about me.«

R Michelangelo Antonioni B Mark Peploe, Michelangelo Antonioni, Peter Wollen K Luciano Tovoli A Piero Poletto S Michelangelo Antonioni, Franco Arcalli P Carlo Ponti D Jack Nicholson, Maria Schneider, Jenny Runacre, Ian Hendry, Stephen Berkoff | I & F & E | 126 min | 1:1,85 | f | 18. Februar 1975

# 1155 | 10. April 2019

12.2.75

L’important c’est d’aimer (Andrzej Zulawski, 1975)

Nachtblende

Durch die Nacht mit Romy, Jacques, Klaus, Fabio und den anderen. Sie alle stehen an der Endhaltestelle ihres Lebens und warten auf den Bus, der sie irgendwohin bringt: zurück, nach Hause, weg. Wichtig sei es zu lieben, meint höhnisch der Originaltitel des Films, der nur eines zeigt: verzweifelte Menschen, die unfähig sind, anderen zu sagen: »Je t’aime« – wohl vor allem deshalb, weil sie sich selber (nicht ganz ohne Grund) zutiefst verabscheuen. »L’important c’est d’aimer« spielt unter eitlen, gebrochenen, blockierten Künstlern in einer Welt, die sich nur für Haut, Fleisch und Tränen interessiert. Kaum je wurde der Warencharakter der Gefühle so unerbittlich thematisiert (und exploitiert) wie von Andrzej Zulawski; selten haben sich Akteure so restlos entblößt wie vor Ricardo Aronovichs pervers ungnädiger Kamera. Wenn Romy (als abgehalfterte Schauspielerin) sich ganz am Ende (in einem sarkastischen Zirkelschluß zum ekelhaften Anfang (»Sens-le! Sens-le!«) des Films) über den halbtot geschlagenen Fabio beugt und ihm endlich, endlich die – sie und ihn – (vielleicht) erlösenden Worte zuflüstert, macht es schnipp, und die Qual hat (zumindest für den Zuschauer) ein (vorläufiges) Ende. Ouf!

R Andrzej Zulawski B Andrzej Zulawski, Christopher Frank V Christopher Frank K Ricardo Aronovich M Georges Delerue A Jean-Pierre Kohut-Svelko S Christiane Lack P Albina du Boisrouvray D Romy Schneider, Jacques Dutronc, Klaus Kinski, Fabio Testi, Claude Dauphin | F & I & BRD | 109 min | 1:1,66 | f | 12. Februar 1975