23.5.74

That’s Entertainment (Jack Haley Jr., 1974)

Das gibt’s nie wieder

»Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.« Die Zeit des Filmmusicals waren die 30er, 40er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts; der Ort dieses Vornehmens war das Studio Metro-Goldwyn-Mayer (»More stars than there are in heaven.«) in Hollywood, California. Lange, lange nach dem heyday des Genres, zu ihrem 50. Geburtstag im Jahre 1974, schenkte sich die glorreichste aller Traumfabriken einen Zusammenschnitt der Gipfelpunkte ihrer Kunstproduktion, moderiert von älter gewordenen Berühmtheiten (Astaire, Crosby, Kelly, Reynolds, Rooney, Sinatra), die in den Trümmern des legendären MGM-backlots der Ära ihres Ruhms gedenken. Vordergründig ein fidel-melancholischer Singin’-and-dancin’-Porno, der nur aus den Cumshots eines (be)rauschenden Gestern besteht, macht »That’s Entertainment!« auf faszinierende Art und Weise anschaulich, wie das Musical in seinem formal entfesselten audiovisuellen Wahnsinn zum »absoluten« Film wird: Unterhaltung als reine Rhythmisierung von Farbe, Form und Ton – Ausstattungskino als Triumph der Transzendenz.

R Jack Haley Jr. B Jack Haley Jr. K Ernest Laszlo, Russell Metty M Henry Mancini S Bud Friedgen P Jack Haley Jr. D Fred Astaire, Bing Crosby, Gene Kelly, Peter Lawford, Liza Minnelli | USA | 135 min | 1:1,85 | f | 23. Mai 1974

22.5.74

Daisy Miller (Peter Bogdanovich, 1974)

Daisy Miller

»She’s a mystery. I can’t decide if she’s really reckless or really …« – »Innocent?« Eine comedy of manners in den 1870er Jahren: Während einer Europareise trifft der soignierte Amerikaner Frederick Winterbourne (Barry Brown) im Schweizer Kurort Vevey auf seine Landmännin Annie ›Daisy‹ Miller (Cybill Shepherd), quirlige Tochter aus neureichem, neuenglischen Hause. Der steife Frederick ist gleichermaßen angezogen und abgestoßen von der jungen, hübschen, stets fröhlich plappernden Daisy, deren zwischen Unschuld und Anstößigkeit, zwischen Naivität und Selbstsicherheit changierendes Wesen – mutwillig oder ungewollt? – die sozialen Normen in Frage stellt … Peter Bogdanovich inszeniert Frederic Raphaels Adaption einer Novelle von Henry James mit ausgeprägtem Sinn für historische Atmosphäre und einem genauen Blick auf gesellschaftliche Verhaltensmuster; im Hinblick auf die formale Eleganz und die abgeklärte Ironie der Erzählung erscheint »Daisy Miller« durchaus wie die künstlerische Antizipation des subtilen Historienkinos eines James Ivory … Vom Genfer See führt die Handlung weiter ins sommerliche Rom, wo Daisy einmal mehr (und einmal zu oft) ihren sorglosen Charme spielen läßt. »She did what she liked«, heißt es am Ende, wenn es für die Liebe zu spät ist, über Daisy, und der verstockte Frederick denkt möglicherweise zurück an jenen fernen Tag, als er über sie sagte: »Maybe she’s just an american girl, and that’s that.«

R Peter Bogdanovich B Frederic Raphael V Henry James K Alberto Spagnoli M diverse A Ferdinando Scarfiotti S Verna Fields P Peter Bogdanovich D Cybill Shepherd, Barry Brown, Eileen Brennan, Mildred Natwick, Cloris Leachman | USA | 91 min | 1:1,85 | f | 22. Mai 1974

# 970 | 8. September 2015

17.5.74

The Black Windmill (Don Siegel, 1974)

Die schwarze Windmühle

Der kleine Sohn des britischen Abwehragenten John Tarrant (hard-boiled: Michael Caine) wird entführt. Die Kidnapper kennen sich in den Interna des Geheimdienstes erstaunlich gut aus, und Tarrant, hinter dessen professionellem Pokerface die Rachegefühle nur so brodeln, muß zwischen London, Paris und Sussex eine fiese Intrige aufdröseln, um seinen Sprößling lebend wiederzufinden – zumal sein Vorgesetzter sich strikt weigert, die Forderungen der Geiselnehmer (517.075 Pfund in Rohdiamanten) zu erfüllen. Don Siegels Spionagethriller hat weder einen sonderlich raffinierten Plot noch dramatische Spannungsmomente zu bieten, die Vorzüge des Werks liegen in der straffen, von Roy Budds minimalistisch-funkigem Score wirksam akzentuierten Inszenierung und in der hochkarätigen Besetzung: Neben Caine spielen Janet Suzman (als Tarrants entfremdete Ehefrau), Donald Pleasence (als aasiger MI6-Sesselfurzer und Pflanzenfreund), Joss Ackland (als schlapphütiger Kriminalkommissar) sowie Delphine Seyrig (!) und John Vernon als niederträchtige Kinderquäler.

R Don Siegel B Leigh Vance V Clive Egleton K Ousama Rawi M Roy Budd A Peter Murton S Antony Gibbs P Don Siegel D Michael Caine, Donald Pleasence, Delphine Seyrig, John Vernon, Janet Suzman, Joss Ackland | UK | 106 min | 1:2,35 | f | 17. Mai 1974

# 982 | 29. Dezember 2015

15.5.74

Stavisky … (Alain Resnais, 1974)

Stavisky …

»Pour comprende Alex, il faut parfois oublier les dossiers. Il faut rêver de lui.« Alain Resnais’ Traum vom Hochstapler Alexandre Stavisky alias Serge Alexandre alias ›le beau Sacha‹ … Paris, Anfang der 1930er Jahre: Stavisky (mondän: Jean-Paul Belmondo), Sohn eines braven Zahnarztes aus der Ukraine, erfindet nicht nur sich selbst sondern auch das Geld, das er mit vollen Händen ausgibt. Der falsche Weltmann logiert im ›Claridge‹, hüllt seine Muse Arlette in weißen Zobel, finanziert Revuen und Staatsstreiche, diniert mit der crème de la crème aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Als seine finanziellen Luftnummern auffliegen, erschüttert der folgende Skandal die III. Republik bis ins Mark. Ein Film über die Verschwendung als Investition, über den Kredit als Illusion, auf der Imperien errichtet werden. »Un rôle de spectre peut me convenir«, sagt der Titelheld über sich, und tatsächlich schwebt Stavisky wie ein Geist (»Personne ne sais que je suis.«) durch die luxuriösen Kulissen des Spiels: Theaterbühnen, Casinos, Hotelhallen – Transiträume eines trügerischen Vergnügens – sind die Hauptschauplätze der betörend morbiden Zeitrevue. Der ergreifend schöne Nachruf auf eine so extravagante wie desolate Ära verbindet Stummfilmkolportage style Fantômas mit der überfeinerten Ästhetik einer Epochendämmerung à la Visconti, verknüpft den Abgesang auf den Finanzkapitalismus mit einem Seitenblick auf die gescheiterte Hoffnung der Revolution in der Person des exilierten Leo Trotzki. Selten nur werden historisch-politische Stoffe mit einem solchen Höchstmaß an erzählerischem Raffinement (Buch: Jorge Semprún) und visueller Delikatesse (Kamera: Sacha Vierny, Kostüme: Yves Saint-Laurent) dargeboten. Die phänomenale, fragil-nostalgische Musik von Stephen Sondheim und eine großartige Besetzung – Boyer, Duperey, Lonsdale, Périer, Rich – vervollkommnen Resnais’ bitter-süße Suche nach einer verlorenen Zeit.

R Alain Resnais B Jorge Semprún K Sacha Vierny M Stephen Sondheim A Jacques Saulnier S Albert Jurgenson P Jean-Paul Belmondo D Jean-Paul Belmondo, Charles Boyer, Anny Duperey, François Périer, Michael Lonsdale, Claude Rich | F & I | 120 min | 1:1,66 | f | 15. Mai 1974

9.5.74

Mahler (Ken Russell, 1974)

Mahler

»What religion are you?« – »I am a composer.« Auf der Zugreise zurück ins heimatliche Wien erinnert sich der sterbenskranke Komponist Gustav Mahler (Robert Powell) an wichtige – vom exzessiven Schöpferdrang des Regisseurs Ken Russell melodramatisch überzeichnete – Stationen seines Lebens: jüdische Kindheit mit cholerisch-ehrgeizigem Vater, finanzielle Sorgen und antisemitisches Geläster, berechnende Konversion zum katholischen Glauben (arrangiert als stummfilmhaftes Pop-Weihespiel mit Cosima Wagner als hohepriesterlicher Nazi-Domina), neoromantisches Eheglück und profanes Liebesleid an der Seite der passiv-repressiven Gattin Alma (die schon mal einen table dance auf dem Sarg ihres (noch nicht ganz) verstorbenen Ehemanns hinlegt), sodann Tod der Tochter, Suizid des Bruders, Umnachtung des Freundes (Hugo Wolf als Kaiser Franz Josef). Die Vita des Tondichters verwandelt sich zur schillernden (gelegentlich etwas beliebigen) Illustration seiner Musik, umgekehrt liefern die Kompositionen den Soundtrack zu einer fragilen Aufsteiger-Biographie. »Mahler« imaginiert Mahler als provokant-parodistischen Fiebertraum, als üppig-assoziatives Barockbukett: »We're going to live forever!«

R Ken Russell B Ken Russell K Dick Bush M Gustav Mahler A Ian Whittacker S Michael Bradsell P Roy Baird D Robert Powell, Georgina Hale, Richard Morant, Lee Montague, Antonia Ellis | UK | 115 min | 1:1,85 | f | 9. Mai 1974