29.12.72

Ludwig (Luchino Visconti, 1972)

Ludwig II. 

Beklemmendes Panorama und pompöses Kammerspiel: der Verfall eines Monarchen vom hoffnungsvollen Tag der Krönung bis zum geheimnisumwitterten Ertrinkungstod. Im abschließenden Teil seiner »deutschen Trilogie« begibt sich Luchino Visconti auf die Spuren des – zu Beginn der Erzählung berückend schönen – Bayernkönigs Ludwig II. (Helmut Berger), der – voller Pläne und erfüllt von Ängsten, zugleich scheu und gebieterisch ­– seinen von schöpferischem Wollen angetriebenen Herrschaftsanspruch in konstitutionellen Zeiten nicht leben kann, dem – zerrieben zwischen dem Drang nach Selbstentfaltung und staatspolitischem Erwartungsdruck – Freundschaft (zum hochverehrten Richard Wagner, zum angeschwärmten Josef Kainz) und Liebe (zur seelenverwandten Elisabeth von Österreich, der komplexesten Figur des Dramas, von Romy Schneider als Dementi ihrer eigenen Sissi-Vergangenheit gespielt) durchweg mißglücken, der sich schließlich – aufgedunsen und zahnlückig – in asymmetrische Techtelmechtel und die Errichtung (seifen-)opernhafter Phantasiewelten flüchtet. Kein herkömmliches Epos, eher eine ausufernde Fallstudie, zusammengefügt aus (mehr oder weniger fiktionalisierten) biographischen Episoden, locker strukturiert von in die Kamera gesprochenen Stellungnahmen der Wegbegleiter und Widersacher des royalen Protagonisten, ein schwelgerisch-distanziertes Schaustück vom (traurigen) Glanz und (prunkvollen) Elend eines radikalen Ästheten und antisozialen Träumers.

R Luchino Visconti B Luchino Visconti, Enrico Medioli, Suso Cecchi D’Amico K Armando Nannuzzi M diverse A Mario Chiari S Ruggero Mastroianni P Ugo Santalucia, Dieter Geissler D Helmut Berger, Romy Schneider, Trevor Howard, Umberto Orsini, Silvana Mangano, Gert Fröbe | I & F & BRD | 235 min | 1:2,35 | f | 29. Dezember 1972

# 1136 | 8. November 2018

26.12.72

Dr. M schlägt zu (Jess Franco, 1972)

Gemeingefährliche Industriespionage als deutsch-spanischer Sleaze-Alptraum: Aus dem Forschungsinstitut von Professor Orloff (Siegfried Lowitz) werden die Pläne einer supergeheimen Strahlenwaffe gestohlen – dumm nur, daß die Unterlagen verschlüsselt sind. Die Verbrecher unter Führung von Dr. Krenko (Jack Taylor spielt eine Mischung aus überfordertem Dr. Mabuse und zahnlosem Charles Manson) unternehmen nun alles (Un-)Menschenmögliche, um sich den Code zu verschaffen … Artur Brauner wird seinem Ruf als gnadenloser Nachzehrer einmal mehr gerecht, indem er den Kinomythos »M« = Mabuse (der von ihm zuvor schon mehrfach gefleddert wurde) endgültig ausplündert und alles Titanischen entkleidet. Dem lächerlichen Dilettantismus der Schurken – ein unfähiger Hypnose»spezialist«, eine fiese Handlangerin und ein täppisches Kraftmonster treiben ihr unsinniges Wesen – entsprechen die atemberaubende Inkonsistenz des (vom Produzenten mitverfaßten) Drehbuchs und die radikale Dürftigkeit der Regiebemühungen von Jess Franco (der, wenn nichts mehr hilft, dralle Schönheiten entführen und in verzerrter Weitwinkeloptik piesacken läßt). Auf ihre Art finden Brauner und Franco damit ein künstlerisches Äquivalent zum asozialen Zerstörungsfuror des legendären Anarchokriminellen.

R Jess Frank (= Jess Franco) B Art Bernd (= Artur Brauner), Jess Frank (= Jess Franco) K Manuel Merino M Rolf Kühn A Hans-Jürgen Kiebach S Renate Engelmann P Artur Brauner D Fred Williams, Jack Taylor, Ewa Strömberg, Siegfried Lowitz, Moisés Augusto Rocha | BRD & E | 80 min | 1:1,66 | f | 26. Dezember 1972

# 905 | 1. September 2014

21.12.72

Viskningar och rop (Ingmar Bergman, 1972)

Schreie und Flüstern

Ein Traumspiel der Emotionen. Ein Totentanz der Lebenden. Eine Gespenstersonate in Rot. Drei Schwestern in einem Landhaus: Agnes (Harriet Andersson) stirbt einen langsamen, qualvollen Tod, Karin (Ingrid Thulin) und Maria (Liv Ullmann) stehen dabei, sitzen daneben, schauen hin und doch weg. Das glühende Innere des vornehmen Baus – rote Wände, rote Böden, rot bezogene Möbel – als Inneres des Schmerzes, der die drei Frauen umfängt, als Bühne eines Kammerspiels der falschen Liebe und des echten Zorns: Maria, oberflächlich-kokett, verheiratet mit einem weinerlichen Schwächling, sucht vergebens Bestätigung bei einem Geliebten, der ihr (als Arzt) mit wissenschaftlicher Präzision die Spuren ihres körperlichen Verfalls erläutert; Karin, an der Seite eines eisigen Karrieristen selbst bis aufs Blut erkaltet, findet sinnliches Erleben nur mehr in selbst beigebrachten Verletzungen; Agnes krümmt sich in körperlicher Qual, schreit nach Hilfe, fragt nach dem Sinn ihres unverdienten Leidens. Wahre Berührungen scheinen unter den Schwestern unmöglich, bleiben der in ihrer Natürlichkeit ruhenden Zofe Anna überlassen, die die Sterbende in den Armen wiegt wie die Schmerzensmutter den Gekreuzigten… Mit der Sicherheit des großen Meisters flicht Ingmar Bergman Gestern und Heute seiner Erzählung kunstvoll ineinander, läßt eine Tote auferstehen und Rechenschaft fordern, wirft, nach einer Überfahrt über das Meer der Tränen, Anker an der Insel der seligen Erinnerung: Agnes, die vielleicht aufrichtigste, unverdorbenste der drei Schwestern, die einzige anscheinend, die sich selbst (und damit anderen) im Leben nahe kommen konnte, beschreibt (imaginiert?) – nach ihrem Tod noch einmal lebendig geworden in den Zeilen ihres Tagebuchs – einen fast überirdischen Moment des Glücks: drei Schwestern auf einer Schaukel vereint, sanft bewegt im weichen Licht eines heiteren Frühlingstages. Nach den Exzessen der Kälte und Fremdheit, die »Viskningar och rop« ausgebreitet hat, kann diese Reminiszenz eigentlich nur eine schöne Lüge sein – aber wen sollte es kümmern, wenn sie denn tief empfunden ist…

R Ingmar Bergman B Ingmar Bergman K Sven Nykvist M Johann Sebastian Bach A Marik Vos S Siv Lundgren P Lars-Owe Carlberg D Harriet Andersson, Ingrid Thulin, Liv Ullmann, Kari Sylwan, Erland Josephson | S | 91 min | 1:1,66 | f | 21. Dezember 1972

17.12.72

Avanti! (Billy Wilder, 1972)

Avanti, Avanti! 

Ein sittenstrenger Geschäftsmann (Jack Lemmon) muß erkennen, daß sein verstorbener sittenstrenger Vater regelmäßig Urlaub von den strengen Sitten nahm – und tut’s dem teuren Toten sodann mit der Tochter der (nicht zufälligerweise ebenfalls verstorbenen) langjährigen väterlichen Geliebten (Juliet Mills) fröhlich nach … In seinem mediterran-legeren Alterswerk reiht Billy Wilder einen italienischen Moment an den anderen und läßt seinen linden Hauch von Story zweieinhalb Stunden lang zart über den Betrachter hinstreichen – ohne daß zu irgend einem Zeitpunkt die liebenswürdige Spannung zwischen den Figuren nachließe oder der feingesponnene Erzählfaden durchhinge. Vergnügen (beinahe) senza fine.

R Billy Wilder B Billy Wilder, I. A. L. Diamond V Samuel A. Taylor K Luigi Kuveiller M Carlo Rustichelli A Fernandino Scarfiotti S Ralph E. Winters P Billy Wilder D Jack Lemmon, Juliet Mills, Clive Revill, Edward Andrews, Gianfranco Barra | USA | 140 min | 1:1,85 | f | 17. Dezember 1972

10.12.72

Sleuth (Joseph L. Mankiewicz, 1972)

Mord mit kleinen Fehlern

»Once, she was in love with me.« – »And now she’s in love with me.« Zwei Männer rivalisieren um eine Frau. Das (abwesende) Streitobjekt dient indes lediglich als Katalysator, der Aktionen und Reaktionen der (einander ebenbürtigen) Gegner provoziert. Joseph L. Mankiewicz inszeniert Anthony Shaffers wechselvolles Rollen-/Doppel-/Mörder-Spiel, das sich peu à peu von der kultivierten Konversation zum tödlichen Machtkampf entwickelt, auch als Wettstreit zweier überragender Schauspieler: Laurence Olivier, Inbegriff des britischen Gentleman, als exzentrischer Kriminalschriftsteller gegen Michael Caine, waschechter Cockney, als flotter Society-Friseur mit italienischen Wurzeln. Die ohne Milde geführte Auseinandersetzung zwischen Andrew Wyke und Milo Tindel (geborener Tindolini) impliziert zahlreiche, einander überlagernde Kontroversen: aristokratischer Konservativismus gegen selbstbewußtes Plebejertum, Besitzstandswahrung gegen Aufstiegsorientierung, Eingesessenheit gegen Zuwanderung, Künstlichkeit gegen Authentizität. Der eine sieht das Leben als Scharade, der andere kennt den Ernst des Lebens; für den einen ist Erniedrigung ein amüsanter Zeitvertreib, für den anderen alltägliche Realität … Als dritter Protagonist des konfliktären Stücks figuriert Ken Adams beziehungsreiches Bühnenbild: ein verwinkeltes Herrenhaus, vollgestopft mit Automaten, Puppen und Marionetten, ein klaustrophobisch-labyrinthisches Kabinett der Irreführung und der Hinterlist. PS: »Remember ... be sure and tell them ... it was only a bloody game.«

R Joseph L. Mankiewicz B Anthony Shaffer V Anthony Shaffer K Oswald Morris M John Addison A Ken Adam S Richard Marden P Morton Gottlieb D Laurence Olivier, Michael Caine | USA & UK | 138 min | 1:1,85 | f | 10. Dezember 1972

# 992 | 12. März 2016

7.12.72

Che? (Roman Polanski, 1972)

Was?

Statt »Was?« könnte Roman Polanskis Erotikfarce auch »Wie jetzt?« heißen oder »Sydne Rome zeigt in Carlo Pontis Villa ihre Möpse«: Auf der Flucht vor drei Vergewaltigern gerät die junge und knackige Nancy in das topographisch und zwischenmenschlich verwinkelte Domizil eines sterbenskrank-endgeilen Kunstsammlers (Hugh Griffith), der mit einer illustren Rotte dekadenter Erbschleicher (unter ihnen Marcello Mastroianni als Ex-Zuhälter, Tigerfellträger und Uniformfetischist) seine letzten Tage verbringt. Die assoziativ-absurde Szenenfolge erscheint wie eine comichafte Jet-Set-Variation von »Alice in Wonderland« oder – mit all den Déjà-vus und Sado-Maso-Obsessionen – wie eine Hommage an Alain Robbe-Grillets kunstvollen Trivialroman »La maison de rendez-vous«. Polanskis Gesellschaftskritk geht nicht tiefer als die Poritze seiner Hauptdarstellerin, aber der Film macht den Eindruck, als hätten alle Beteiligten eine tolle Zeit auf dem Sommersitz des Produzenten verbracht.

R Roman Polanski B Gérard Brach, Roman Polanski K Giuseppe Ruzzolini, Marcello Gatti M Claudio Gizzi A Aurelio Crugnola S Alastaire McIntyre P Carlo Ponti D Marcello Mastroianni, Sydne Rome, Hugh Griffith, Guido Alberti, Gianfranco Piacentini | I & F & BRD | 114 min | 1:2,35 | f | 7. Dezember 1972

6.12.72

Le grand blond avec une chaussure noire (Yves Robert, 1972)

Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh

Hübscher kleiner spy-spoof über das Phänomen der déformation professionelle: Spionagechef Toulouse (gepflegt-ödipal: Jean Rochefort), muß die Karriere-Ambitionen seines Stellvertreters Milan (gefährlich-verbissen: Bertrand Blier) abwehren; ein Köder in Gestalt eines (bis (fast) zum Schluß) völlig ahnungslosen, großen blonden Geigers (albern-verträumt: Pierre Richard) läßt den untergebenen Widersacher erst die Nerven verlieren und schließlich über die eigene Leiche gehen ... Der ganze Irrwitz geheimdienstlicher Tätigkeit zeigt sich, wenn in der Wohnung des Violinisten eine Fotografie mit Liebesschwur (»Deux cœurs qui s’aiment finissent toujours par se rencontrer.«) gefunden wird, und Milan von seinen Leuten verlangt, die Botschaft umgehend zu »entschlüsseln«. PS: Ein atemberaubender Moment der Filmgeschichte: wie die erst so hochgeschlossen wirkende agente provocatrice (Mireille Darc) einen sensationellen Blick auf ihren Rücken samt Poritzenansatz gewährt.

R Yves Robert B Yves Robert, Francis Veber K René Mathelin M Vladimir Cosma A Théo Meurisse S Ghislaine Desjonquères P Alain Poiré, Yves Robert D Pierre Richard, Bernard Blier, Jean Rochefort, Mireille Darc, Paul Le Person | F | 90 min | 1:1,66 | f | 6. Dezember 1972