21.9.72

Eolomea (Herrmann Zschoche, 1972)

»Kindliche Phantasien, eine romantische Legende.« Weltraumstation ›Margot‹ meldet den sukzessiven Verlust von acht Schiffen. Die Amtsträger des Wissenschaftlichen Rates sind ratlos. Zusammen mit einem Havariekommando machen sich die resolut-patente Astronautikerin Dr. Maria Scholl (Cox Habbema) und der vital-ironische Kosmonaut Dan Lagny (mit der Stimme von Manfred Krug: Iwan Andonow) auf der Weg, das Geheimnis zu lüften. Eine wichtige Rolle scheint ein von Marias Mentor Professor Odo Tal (Rolf Hoppe) erwähnter mythischer Himmelskörper zu spielen. Schon vor Jahrzehnten waren von Raumforschern Signale aus dem Sternbild Schwan aufgefangen worden, die auf die Existenz eines symmetrischen Pendants der Erde hindeuteten: Eolomea … Regisseur Herrmann Zschoche und Autor Angel Wagenstein (der mehrfach für Konrad Wolf arbeitete) schenken den techni­schen Aspekten der Utopie kaum Beachtung; ihr, von Günther Fischer popmusikalisch untermaltes, Zukunftsbild ist eher trashig-ironischer Spiegel der real-sozialistischen Gegen wart als seriös-perfektionistische Imagination kommender Zeiten: Im Mittelpunkt von »Eolomea« stehen Portraits von sympathischen Wunschträumern, die, hinter dem Rücken einer verkniffen-phantasielosen Bürokratie, losziehen (= abfliegen), um einen Planeten des ewigen Frühlings zu entdecken.

R Herrmann Zschoche B Angel Wagenstein, Willi Brückner K Günter Jaeuthe M Günther Fischer A Erich Krüllke, Werner Pieske S Helga Gentz P Dorothea Hildebrandt D Cox Habbema, Iwan Andonow, Rolf Hoppe, Wsewolod Sanajew, Petar Slabakow | DDR & BG & SU | 79 min | 1:2,2 (70 mm) | f | 21. September 1972

15.9.72

La course du lièvre à travers les champs (René Clément, 1972)

Treibjagd

Trilogie des contes policiers (3) … »We are but older children dear / Who fret to find our bedtime near.« Wiederum unter ein Lewis-Carroll-Motto gestellt, ist René Cléments dritter und letzter polar de fées das elegischste und zugleich radikalste Werk der Trilogie. »La course du lièvre à travers les champs« erdichtet die Realität als Kinderspiel: »Ich habe mich häufig gefragt«, schreibt Drehbuchautor Sébastien Japrisot, »ob das Kind die Erwachsenen imitiert oder ob nicht die Wirklichkeit eine verzweifelte Kopie der kindlichen Träume ist.« Eine Clique von Kindern und Halbwüchsigen spielt am Hafen von Marseille. Sie tun so, als wären sie Banditen, die den Überfall auf einen Wolkenkratzer in Amerika planen. René Clément folgt diesen Träumern hinter den Spiegel der Einbildung und erzählt ihre Phantasie mit höchster formaler Delikatesse: Tony (Jean-Louis Trintignant) gerät auf der Flucht vor rachsinnigen Zigeunern an den alten Gauner Charley (Robert Ryan), der mit seiner bunt zusammengewürfelten Bande in einer abgelegenen Kaschemme (namens »The Cheshire Cat Inn«!) an der kanadisch-amerikanischen Grenze haust. Als unwillkommener Eindringling muß sich Tony den Respekt der Gruppe sauer verdienen, macht schließlich mit bei der, im Auftrag eines Gangsterbosses organisierten, spektakulären Entführung einer Kronzeugin aus dem obersten Stockwerk eines Hochhauses in Montréal … Clément zitiert ungeniert Klischeebilder (und -töne) des Genrekinos: Western, Kriminalfilme und Romanzen haben die juvenile Einbildungskraft beflügelt. Spiel und Erzählung kennen keine festen Regeln, die Geschichte schlägt Haken (wie der Hase des Titels), schweift durch ihr selbstentdecktes Wunderland, unterliegt plötzlichen Stimmungsschwankungen (wie ihre Erfinder). In Bildern von magischer Klarheit (Kamera: Edmond Richard) entspinnt sich ein Abenteuer von idyllischem Schrecken, eine imaginäre Identitätssuche zwischen Unschuld und Schuld, ein originäres filmisches Kunstwerk zwischen melvillescher Stilisierung und buñuelesker Surrealität. »Ils ont bien joué.«

R René Clément B Sébastien Japrisot V David Goodis K Edmond Richard M Francis Lai A Pierre Guffroy S Roger Dwyre P Serge Silberman D Jean-Louis Trintignant, Robert Ryan, Lea Massari, Aldo Ray, Jean Gaven, Tisa Farrow | F & I | 140 min | 1:1,85 | f | 15. September 1972

Le charme discret de la bourgeoisie (Luis Buñuel, 1972)

Der diskrete Charme der Bourgeosie

Ein bürgerliches Lustspiel oder Sechs Personen suchen einen Eßtisch. Am Beispiel eines kleinen Freundeskreises, dem er konsequent und einfallsreich das Einnehmen einer Mahlzeit verweigert, portraitiert Luis Buñuel sein Lieblingshaßobjekt: die parasitäre Oberschicht. Elegant läßt der Meister Realität und Traum ineinanderfließen, schafft – so mühelos wie phantasievoll – eine vieldimensionale filmische Bühne, auf der er seine charmanten Kriminellen, seine wohlerzogenen Heuchler, seine kultivierten Materialisten mit der kühlen Freundlichkeit des Käferforschers betrachten (und sezieren) kann. Am Ende des (im Wortsinne) abwechslungsreichen Stücks wird doch noch serviert (Hammelkeule), und prompt fällt die ganze diskret-charmante Blase (der selbstgefällige Fernando Rey, die alkoholische Bulle Ogier, der flotte Jean-Pierre Cassel, die nuancierte Stephane Audran, der joviale Paul Frankeur, die erlesene Delphine Seyrig) einem bewaffneten Überfall zum Opfer. Natürlich stehen sie alle wieder auf – die Bourgeoisie ist unverwüstlich. PS: À bas Lénine, ou la vierge à l'écurie. (Zu deutsch: Nieder mit Lenin oder Die Jungfrau im Pferdestall.) Was das bedeuten soll? Fragen Sie Buñuel.

R Luis Buñuel B Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière K Edmond Richard A Pierre Gueffroy S Hélène Plemiannikov P Serge Silberman D Fernando Rey, Paul Frankeur, Delphine Seyrig, Bulle Ogier, Jean-Pierre Cassel | F & I & E | 102 min | 1:1,66 | f | 15. September 1972