27.3.72

Sonnensucher (Konrad Wolf, 1958/1972)

Fast 15 Jahre lang lag Konrad Wolfs Urangräberdrama auf Eis, bevor es seine Uraufführung erleben durfte. Zu ungeschminkt vielleicht schildert »Sonnensucher« die rauhe Atmosphäre der beschwerlichen Suche nach dem strahlenden Erz, zu offen möglicherweise spricht der Film von den Konflikten zwischen deutschen Arbeitern und sowjetischen Offizieren, die den Rohstoff für Stalins Bombe herbeischaffen sollen: Felsach, das (fiktive) erzgebirgische Bergbaustädtchen mit seinen schlammigen Straßen und hölzernen Baracken, mit seinen platzhirschhaften Rivalitäten und handgreiflichen Vergnügungen gleicht eher einer Westernkulisse als einem Ort, an dem der Sozialismus aufgebaut wird. Die Perspektive der Erzählung ist mehrfach gebrochen – im Mittelpunkt steht mal der »starke Mann« und Herzenskommunist Jupp (Erwin Geschonneck), dann wieder das herumgeschubste Waisenmädchen Lutz (Ulrike Germer), das zwischen drei Männer gerät: einen lieben, aber unbedarften Kumpel, einen sensiblen russischen Ingenieur und einen reizbaren, geistig wie heimatlich entwurzelten Obersteiger (Günther Simon) – deren diffizilen Charakteren Drehbuch und Regie allesamt verstehend Rechnung tragen. Von gelegentlichen agitatorischen Ausführungen unterbrochen, glückt Wolf ein formal beherrschtes, zwar strikt parteiliches, dabei aber inhaltlich nuanciertes Kaleidoskop des mühevollen Neuanfangs, der menschlichen (und politischen) Widersprüche, des ehrgeizigen Vorhabens, die nachkriegerische Unordnung in ein neues Gleichmaß zu bringen.

R Konrad Wolf B Karl Georg Egel, Paul Wiens K Werner Bergmann M Joachim Werzlau, Hans-Dieter Hosalla A Karl Schneider S Christa Wernicke P Hans-Joachim Schoeppe D Ulrike Germer, Erwin Geschonneck, Günther Simon, Manja Behrens, Wiktor Awdjuschko | DDR | 116 min | 1:1,37 | sw | 27. März 1972

23.3.72

Das Unheil (Peter Fleischmann, 1972)

»Denn Frevel geht nicht aus der Erde hervor, und Unheil wächst nicht aus dem Acker; / sondern der Mensch erzeugt sich selbst das Unheil ...« (Hiob 5, 6 und 7) Notizen aus der bundesdeutschen Provinz der frühen 1970er Jahre: Peter Fleischmann und DKP-Sympathisant Martin Walser beschreiben (am Beispiel der hessischen Stadt Wetzlar) eine Wachstumsgesellschaft an den Grenzen des Wachstums, ein (Wirtschafts-)Wunderland nach dem Wunder, eine verpestete Gegenwart, über der die Glocken einer unbewältigten Vergangenheit dröhnen. Dreh- und Angelpunkt der Begebnisse ist Hille Vavra (Vitus Zeplichal), Abiturient und Pfarrerssohn, unbeschriebenes Blatt und gelähmter Rebell; er versucht sich durchzuschlagen in einer Welt, in der die eigene Meinung mehr kostet, als sie wert ist, wo man zu schlucken bekommt, was einem nicht schmeckt, wo sich der Müll in den Straßen türmt, wo die Fische in den Flüssen und die Topfpflanzen auf den Blumentischen verrecken, wo sich die Alten zu Tode husten, wo über den Dächern unaufhörlich die Hubschrauber knattern. Das Gift des Wohlstands und der Verdrängung sammelt sich überall – zu Lande, zu Wasser, in der Luft und in den Köpfen –, während die Revolte in Lethargie versandet. »Das Unheil«: ein Bewußtseinsstrom aus einem Milieu ohne Bewußtsein, ein Album entlarvender Schnappschüsse, ein apokalyptischer Heimatfilm über eine Heimsuchung, die keine Katharsis kennt.

R Peter Fleischmann B Peter Fleischmann, Martin Walser K Dib Lufti M Xhol Caravan, Max Reger A Heinz Eickmeier S Odile Faillot P Peter Fleischmann D Vitus Zeplichal, Reinhard Koldehoff, Helga Riedel-Hassenstein, Silke Kulik, Ingmar Zeisberg | BRD & F | 96 min | 1:1,66 | f | 23. März 1972

16.3.72

Der Dritte (Egon Günther, 1972)

Die Frau in der wissenschaftlich-technischen Revolution oder: Mutti füttert nicht nur die Kinder sondern auch den Computer. Aus rein männlicher Perspektive (Regisseur, Autoren, Dramaturg, Kameramann – alles Herren) wird die Geschichte einer »emanzipierten« Programmiererin (Jutta Hoffmann) aufgerollt, die zwei Töchter von zwei Männern hat und sich nun auf die Suche nach dem Dritten (und hoffentlich Richtigen) macht – Kybernetik und Liebe. Formal nicht frei von modischem Schnickschnack wie bewußten Unschärfen, schnellen Zooms, wilden Reißschwenks und vibraphonigem Fahrstuhljazz, überzeugt Egon Günthers kurzweilige Romanze erzählerisch durch eine ausgetüftelte Struktur, die nicht nur einen ebenso exemplarischen wie ungewöhnlichen Lebensweg im DDR-Sozialismus nachzeichnet, sondern auch Raum läßt für mitunter recht ironische Skizzen des real-existierenden Alltags zwischen Werkskantine und Konfliktkommission, Kegelbahn und Plattenbau.

R Egon Günther B Günther Rücker, Egon Günther V Eberhard Panitz K Erich Gusko M Karl-Ernst Sasse A Harald Horn S Rita Hiller P Heinz Mentel D Jutta Hofmann, Barbara Dittus, Rolf Ludwig, Armin Mueller-Stahl, Peter Köhncke | DDR | 111 min | 1:1,37 | f | 16. März 1972

14.3.72

Roma (Federico Fellini, 1972)

Fellinis Roma

Die ewige Stadt als große Mutter und heilige Hure, als Schmelztiegel von Vergangenheit und Gegenwart – Federico Fellinis episodische Metropolen-Revue folgt kompromißlos der narrativen Libido: Reminiszenzen des Regisseurs an die Ankunft auf der Stazione Termini als junger, unbedarfter Provinzler und an die ersten, tastenden Schritte des staunenden Zugereisten auf dem schlüpfrigen Pflaster der Kapitale stehen unvermittelt neben zeitgenössischen Erkundungen der römischen Unterwelt, einer barock-klerikalen Modenschau sowie einem (an Godards »Week-End« gemahnenden) Höllenritt über den apokalyptischen Stadtautobahnring. In seiner gestalterischen Wahl- und Zügellosigkeit riskiert »Roma« jederzeit (und konsequent) den Umschlag der ›Sinfonie der Großstadt‹ in die urbane Kakofonie: Der allgegenwärtige Ich-Erzähler spricht in vielen Zungen, so als wolle er das Stimmengewirr Babylons ganz alleine in der ersten Person erzeugen ... Grandios ist der Film immer dann, wenn Fellinis Jugenderinnerungen an das Rom der 1940er Jahre – an volkstümliche Vaudeville-Theater und schmierige Familienpensionen, an die Verlockungen der Bordelle und die Panik des Krieges – zu prallem Leben erweckt werden; banal wird es, wenn der Autor in der (allzu durchsichtig gefakten) Pose des Dokumentaristen so tut, als führe er einen interessierten Dialog mit der »Jugend von heute«, oder (noch nichtssagender) wenn er des Nachts berühmte Bekannte – wie den amerikanischen Schriftsteller Gore Vidal oder ›Mamma Roma‹ Anna Magnani (in ihrem letzten Leinwandauftritt) – abpaßt und ihnen belanglose Sentenzen aus dem Mund leiert (besser gesagt: in den Mund legt). Fellini spricht von Rom: der Dichter als Schwadroneur – oder umgekehrt.

R Federico Fellini B Federico Fellini, Bernardino Zapponi K Giuseppe Rotunno M Nino Rota A Danilo Donati S Ruggero Mastroianni P Turi Vasile D Peter Gonzales, Fiona Florence, Pia De Doses, Renato Giovannoli, Britta Barnes | I & F | 128 min | 1:1,66 | f | 14. März 1972

10.3.72

Leichensache Zernik (Helmut Nitzschke, 1972)

Fast scheint es so, als mache sich der Serienmörder das aus der Teilung des zerstörten Berlin erwachsende Bürokratie-Chaos bewußt zunutze: Zwischen sowjetischem, amerikanischem, englischem und französischem Sektor unerkannt und tödlich hin- und herwechselnd, sucht und findet der grausam-raffinierte Täter seine weiblichen Opfer – passend zur wirtschaftlich äußerst mageren Lage der unmittelbaren Nachkriegszeit steht ihm der Sinn nicht nach Befriedigung sexueller Obsessionen, sondern nach profitabler Erschließung pekuniärer Quellen… In protokollartig-strengem Erzählduktus breitet Helmut Nitzschke (basierend auf historischen Tatsachen sowie einem Projekt des frühverstorbenen Gerhard Klein) einen kuriosen Kriminal- und Ermittlungsfall aus – und richtet dabei ein höhnisches Schlaglicht auf den politischen Surrealismus der leidvoll geteilten deutsch-deutschen Geschichte.

R Helmut Nitzschke B Helmut Nitzschke, Gerhard Klein, Joachim, Plötner, Wolfgang Kohlhaase K Claus Neumann M Hans-Dieter Hosalla A Georg Kranz S Evelyn Thieme P Horst Dau D Alexander Lang, Gert Gütschow, Kurt Böwe, Hans Hardt-Hardtloff, Annemone Haase | DDR | 100 min | 1: 1,37 | sw | 10. März 1972

9.3.72

Cosa avete fatto a Solange? (Massimo Dallamano, 1972)

Das Geheimnis der grünen Stecknadel

»Was habt ihr mit Solange gemacht?« Ein Rendezvous auf der Themse, ein Boot zwischen im Wasser hängenden Zweigen, ein schreiendes Mädchen im Ufergebüsch, ein aufgerissenes Auge, ein blitzendes Messer zwischen weiblichen Schenkeln. Später: das Röntgenbild eines Unterleibes, in dem die Mordwaffe steckt … Massimo Dallamano zeigt nichts und zeigt alles, zeigt die Beziehung von Rache und Verzweiflung, die Nähe von Sehen und Sterben, zeigt nackte Angst, hoffnungslose Gewalt, unumkehrbare Zerstörung: »Was habt ihr mit Solange gemacht?« Ein später Edgar-Wallace-Krimi, ein melancholischer Giallo – Klavierklänge, tröpfelnd wie Regen, schneidende Streicher, wehmütige Frauenstimmen (Musik: Ennio Morricone) … Im Zentrum des Verbrechens: eine katholische Mädchenschule – kindlicher Glauben und begieriges Wissenwollen und todbringende Erkenntnis. Ein geheimer Club und ein falscher Priester, ein Vater und seine Tochter, Genuß und Reue, Freundschaft und Panik, Liebe und Horror, die vergebliche Suche nach der verlorenen Unschuld und die brutale Wiederkehr des Verdrängten: »Was habt ihr mit Solange gemacht?«

R Massimo Dallamano B Massimo Dallamano, Bruno Di Geronimo, Peter M. Thouet V Edgar Wallace K Aristide Massaccesi (= Joe D’Amato) M Ennio Morricone A Gastone Carsetti S Antonio Siciliano, Clarissa Ambach P Leo Pescarolo, Horst Wendlandt D Fabio Testi, Joachim Fuchsberger, Christine Galbo, Karin Baal, Günther Stoll | I & BRD | 103 min | 1:2,35 | f | 9. März 1972

# 800 | 16. November 2013

What’s Up, Doc? (Peter Bogdanovich, 1972)

Is’ was, Doc?

»Once upon a time, there was a plaid overnight case …« Aus einer einzelnen karierten Reisetasche ließe sich wohl keine Komödie zaubern, aber mit vier identischen Taschen, deren vier Besitzer vier benachbarte Zimmer in einem Hotel bewohnen, heißt es: »Anything Goes«. Eine Tasche enthält streng geheime Dokumente, eine andere kostbare Juwelen, die dritte Tasche enthält die Sammlung prähistorischen Eruptivgesteins des weltentrückten Musikologen Howard Bannister (Ryan O’Neal), die vierte die Unterwäsche von Bannisters willensstarker Nemesis Judy Maxwell (Barbra Streisand). Sicherlich geht es Peter Bogdanovich zunächst einmal darum, die filmischen Prinzipien der screwball comedy (à la »Bringing Up Baby«) durchzudeklinieren, die frotzelnden Rollenspiele und geräuschvollen Beziehungskrisen, die idiotischen Verwicklungen und absurden Verwechslungen, das gehetzte Tür auf und Tür zu, das panische Rein und Raus, ganz offenkundig macht er sich einen Mordsspaß daraus, seine Figuren den groben Körperlichkeiten des Slapstick wie auch dem galoppierenden Irrwitz der Warner Cartoons auszusetzen, bis hin zu einer fulminant inszenierten Verfolgungsjagd durch die Straßen und über die Hügel von San Francisco, aber recht eigentlich erzählt er von einem netten jungen Mann, der eine nette junge Frau trifft, und von dem Wahnsinn, den ein solch alltägliches Ereignis zur Folge hat: »This is a one way street!« – »We're only going one way.«

R Peter Bogdanovich B David Newman, Robert Benton, Buck Henry, Peter Bogdanovich K Laszlo Kovacs M Artie Butler A Polly Platt S Verna Fields P Peter Bogdanovich D Barbra Streisand, Ryan O’Neal, Madeline Kahn, Austin Pendleton, Kennth Mars, Michae Murphy | USA | 94 min | 1:1,85 | f | 9. März 1972

# 960 | 10. Juli 2015