22.12.70

Die Weibchen (Zbynek Brynych, 1970)

»Es sind nur die Nerven ... es sind nur die Nerven … die Nerven … die Nerven.« Die psychisch leicht angeschlagene Chefsekretärin Eve (Uschi »Schätzchen« Glas) reist zur geistigen Gesundung in ein mondänes Kurbad, wo sie unter eine kleine Schar bildschöner Schreckgespenster der Emanzipation (Françoise Fabian, Irina Demnick, Pascale Petit, Judy Winter) gerät: Im exklusiven Sanatorium der gestrengen Dr. Barbara werden Männer – nach dem Vorbild der Gottesanbeterin (und dem Manifest der ›Society for Cutting Up Men‹) – per (Lust-)Mord von ihrer inferioren Existenz befreit … Autor Manfred Purzer präsentiert die Selbstbestimmung der Frau als lukullisch-verzerrten Auslöschungsangsttraum des vermeintlich starken Geschlechts; Zbynek Brynych tut erst gar nicht so, als nähme er Drehbuch oder Thema ernst, er fummelt formal daran herum, saugt es exploitativ aus, schnüffelt am Post-68er-Zeitgeist wie ein Süchtiger am Lösungsmittel, benutzt die (von Charly Steinberger konvulsivisch bewegte, gerissene, geschleuderte) Kamera einmal mehr wie ein Maschinengewehr, das Erzählstoff in Fetzen an die Leinwand tackert. »Die Weibchen« schwenkt (und zoomt) hektisch zwischen Satire und Horror, Klamotte und Melo – in der Summe ist das Ganze (je nach Standpunkt) mehr oder weniger als die Summe seiner (Versatz-)Teile: ein filmischer Veitstanz auf dem schmalen Grat zwischen wirklichem Wahn und wahnwitziger Wirklichkeit. PS: »Heute ist ein schöner Tag.«

»Die Weibchen« R Zbynek Brynych B Ernst Flügel (= Manfred Purzer) K Charly Steinberger M Peter Thomas A Wolf Englert S Sophie Mikorey P Luggi Waldleitner D Uschi Glas, Françoise Fabian, Irina Demick, Alain Noury, Hans Korte | BRD & F & I | 90 min | 1:1,66 | f | 22. Dezember 1970

16.12.70

Peau d’âne (Jacques Demy, 1970)

Eselshaut

»La situation mérite attention.« Ein musikalisches Märchen über Verlangen und Inzest, mit sprechenden Rosen und aphrodisierendem Backwerk – psychedelisch, surreal, romantisch, kokett: Dem König der Blauen (Jean Marais) ist die Königin gestorben, und weil er ihr auf dem Totenbett versprechen mußte, dereinst nur eine noch Schönere zu ehelichen, verfällt der Monarch darauf, die einzige Tochter (Catherine Deneuve) zur Frau zu nehmen. Um ihren heiratswütigen Vater hinzuhalten, verlangt die Prinzessin – auf Anraten einer weltklugen Fee (Delphine Seyrig: »Mon enfant, on n’épouse jamais ses parents!«) – Kleider in der Farbe des Wetters, des Mondes, der Sonne, zu guter Letzt die Haut eines goldscheißenden Esels. Sie bekommt, was sie fordert, also bleiben ihr nur die Flucht, das Verstecken, die Maskerade als Schweinemagd, als häßlichste der Häßlichen, schmutzigste der Schmutzigen, allerletzte der Letzten. Natürlich wird sie unter der gräulichen Hülle, die sie tarnt, in ihrer Anmut, Unschuld, Hoheit erkannt – von einem Prinzen aus dem Reich der Roten (Jacques Perrin, der schon in »Les demoiselles de Rochefort« seinem »idéal féminin« nachjagte). In seiner kinematographischen Zauberküche amalgamiert Jacques Demy Cocteausche Es-war-einmal-Phantastik und comichaften Disney-Kitsch, popartige Extravaganz (ein Thron in Katzenform, eine gläserne Sphäre als Katafalk) und verblüffende Anachronismen (Gedichte aus der Zukunft, ein vom Himmel schwebender Helikopter) zu einem zeitlosen (von Michel Legrand kongenial in Töne gesetzten) Loblied auf die verrückte, die geheimnisvolle, die wahre Liebe: »Amour, amour, je t’aime tant.«

R Jacques Demy B Jacques Demy V Charles Perrault K Ghislain Cloquet M Michel Legrand A Jim Leon, Jacques Dugied S Anne-Marie Cotret P Mag Bodard D Catherine Deneuve, Jean Marais, Jacques Perrin, Delphine Seyrig, Micheline Presle | F | 89 min | 1:1,66 | f | 16. Dezember 1970

# 1127 | 13. Juni 2018

6.12.70

Signale – Ein Weltraumabenteuer (Gottfried Kolditz, 1970)

»Es gibt keinen Zweifel mehr: Das sind Signale vernunftbegabter Wesen.« Kurz nach dem Empfang der frohen Kunde von außerirdischem Leben wird das Raumschiff ›Ikaros‹ in der Nähe des Jupiter von einem Meteoritenschwarm getroffen. Die Raumsicherheitszentrale glaubt nicht, daß es Überlebende geben könnte, dennoch bricht die Crew der ›Laika‹ zu einer Rettungsmission auf … Visuell merkbar von Stanley Kubricks »2001« beeinflußt, wurde die 70mm-Produktion »Signale« vom philosophischen Geist des Vorbildes nicht angehaucht. Außer passablen Effekten und einer krausen Dramaturgie hat Regisseur Gottfried Kolditz wenig zu bieten: Seine Kosmonauten ähneln eher einer pflichteifrigen Interflug-Besatzung denn unerschrocken-kühlen Sternenfahrern, die großen Fragen von Raum und Zeit werden in weitem Abstand umschifft, das Interesse am Ursprung der (immerhin titelgebenden) Signale verliert sich in der Unendlichkeit des Kosmos. So bleibt auf der lange Reise quer durch das Sonnensystem viel Gelegenheit, die Arbeit der zonenfuturitischen Ausstatter und Kostümbildner zu begutachten.

R Gottfried Kolditz B C. U. Wiesner, Gottfried Kolditz V Carlos Rasch K Otto Hanisch M Karl-Ernst Sasse A Erich Krüllke, Werner Pieske, Jochen Keller, Roman Wolyniec S Helga Gentz P Dorothea Hildebrandt, Marceli Nowak D Piotr Pawlowski, Alfred Müller, Helmut Schreiber, Gojko Mitic, Irena Karel | DDR & PL | 91 min | 1:2,2 (70 mm) | f | 6. Dezember 1970

1.12.70

The Music Lovers (Ken Russell, 1970)

Tschaikowski – Genie und Wahnsinn

Ein »Film Pathétique« über Leben, Zeiten und Wirken des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Ken Russell – dem gesicherte historische Tatsachen und guter Geschmack nicht viel, höchstpersönliche Ausdeutungen und schamlose Impertinenz dagegen alles bedeuten – startet fulminant: ein Festtag im Schnee, ein Morgen im Bett, die Uraufführung eines Klavierkonzertes. In 20 atemlosen Minuten werden Dynamik und Widersprüche, Gefährdung und Möglichkeiten, Angst und Leidenschaften des (von Richard Chamberlain gespielten) Protagonisten in Form einer komplexen dramatischen Konstellation etabliert: ein schwuler Mann zwischen drei (eigentlich vier) Frauen (Schwester, Gattin, Gönnerin – und toter Mutter), ein Künstler zwischen Talent, Libido und gesellschaftlichem Komment. In den folgenden anderthalb Stunden von »The Music Lovers«, einem Werk, das auch den Titel »Sex, Lies, and Symphony« tragen könnte, wird das Tempo kaum je gedrosselt: visueller Exzess, erzählerischer Hochdruck, romantischer Volldampf bis zum (heißen) Tod des innerlich zum Zerreißen gespannten Tonschöpfers. Das gesprochene Wort aufs Wesentliche reduzierend, legt Russell alles in die üppigen Bilder (Douglas Slocombe) und in die expressive Musik: Tschaikowskis Kompositionen werden zur Folie für Erinnerungen und Visionen, für Angstträume und Glücksfiktionen. In diesem inszenatorischen Überschwang entsteht selbstredend kein wirklichkeitsgetreues Lebensbild. Soll es wohl auch nicht: Die aus effektvoller Kolportage und drastischer Alltagspsychologie gespeiste biographische Phantasie zielt nicht auf faktische, sondern auf emotionale Wahrheit – vielleicht die des filmisch Portraitierten, vielleicht die des Regisseurs.

R Ken Russell B Melvyn Bragg V Catherine Drinker Bowen, Barbara von Meck K Douglas Slocombe M Pjotr Iljitsch Tschaikowski A Natashe Kroll S Michael Bradsell P Ken Russell D Richard Chamberlain, Glenda Jackson, Izabella Telezynska, Christopher Gable, Kenneth Colley | UK | 123 min | 1:2,35 | f | 1. Dezember 1970