25.5.66

Au hasard Balthazar (Robert Bresson, 1966)

Zum Beispiel Balthazar

»Ich erwachte eines Abends völlig aus dieser geistigen Umnachtung, und was mich erweckte, war das Geschrei eines Esels.« Fjodor M. Dostojewski: »Der Idiot« ... Ein Schicksalsweg von Geburt und Taufe im Stall bis zum Tod durch eine verirrte Kugel inmitten einer Schafherde im Gebirge. Der Esel Balthazar gleicht (um die Worte eines englischen Schriftstellers zu paraphrasieren) einer Kamera, mit offenem Verschluß, ganz passiv, er denkt nicht, registriert nur: das Mädchen, das ihm Blumenkränze flicht, den Gutsherrn, der ihn ins Joch spannt und mit der Peitsche antreibt, die Bäckerin, die ihn das frische Brot austragen läßt, den Zirkusdirektor, der ihn zur komischen Nummer macht, die Schmuggler, die ihn schwerbeladen zur Grenze treiben. Mit der Gleichmut eines Heiligen nimmt das Tier hin, was ihm widerfährt – und das ist nur selten etwas Gutes. Wie Balthazar ergeht es auch seiner ersten Besitzerin, der jungen Marie (Anne Wiazemsky), die nach unbeschwerter Kindheit in unterschiedlicher (zumeist männlicher) Gestalt die Widrigkeit der Welt erfahren muß. Indem er in einer Folge von fragmentarisch geschilderten Situationen, anhand zahlreicher Beispiele aus diversen sozialen Milieus – Bürgertum und Bauernstand, Krawalljugend und Straßenvolk – einen Katalog der menschlichen Schwächen aufblättert, konfrontiert Robert Bresson seine (geradezu herausfordernd) duldsamen, hilflosen, naiven Protagonisten mit Stolz und Neid, Rohheit und Gleichgültigkeit. So entwickelt sich, in den schimmernden Grautönen der geheimnisvoll-klaren Bilder von Ghislain Cloquet, ein unpathetisch-emotionales, ebenso (wort-)karges wie (beziehungs-)reiches Panorama des L(i)ebens, Leidens, Sterbens.

R Robert Bresson B Robert Bresson K Ghislain Cloquet M Franz Schubert, Jean Wiener A Jean Charbonnier S Raymond Lamy P Mag Bodard D Anne Wiazemsky, François Lafarge, Philippe Asselin, Nathalie Joyaut, Walter Green | F & S | 95 min | 1:1,66 | sw | 25. Mai 1966

# 1126 | 13. Juni 2018

12.5.66

Mademoiselle (Tony Richardson, 1966)

Mademoiselle

»Pauvre fille, elle mène une drôle de vie.« Mademoiselle öffnet ein Wehr, um das Dorf zu überschwemmen. Mademoiselle zerquetscht in der Hand das Gelege eines Rebhuhns. Mademoiselle legt Feuer in einem Stall. Mademoiselle versengt mit brennender Zigarette die Blüten eines Apfelbaums. Mademoiselle vergiftet das Brunnenwasser. Bevor Mademoiselle, die zugereiste Lehrerin einer kleinen Ortschaft in der tiefsten französischen Provinz, ihr Zimmer verläßt, um ihr Zerstörungswerk zu verrichten, wählt sie das passende Kleid, schminkt sich sorgfältig, steigt in hochhackige Schuhe, streift schwarze Netzhandschuhe über. Keiner der Dorfbewohner hat Mademoiselle im Verdacht. Der allgemeine Argwohn richtet sich gegen den italienischen Waldarbeiter Manou (Ettore Manni), dessen offensive Virilität den Männern Unbehagen bereitet und die Frauen – auch Mademoiselle – in den Bann schlägt ... Tony Richardson formt Jean Genets Reflexion über das Böse und die Einsamkeit, über Frustration und Sadismus, über Lust und Eifersucht zu einem unheimlich frostigen, dabei hochgradig sinnlichen Film. Statt Musik wirken die Geräusche, rauschendes Wasser und knisternde Flammen, Spechtklopfen und Vogelstimmen, krachende Axthiebe und lärmende Motorsägen, Donner und Glockengeläut; in David Watkins statischen Panavision-Bildern der arkadisch-archaischen Landschaft werden die Menschen häufig marginalisiert, zu winzigen Details verkleinert oder an den Rand gedrängt. Überlebensgroß erscheint indes Jeanne Moreau als »Mademoiselle«, in ihrer Grausamkeit, in ihrer Unergründlichkeit, in ihrem Verlangen, wenn sie Manous Sohn Bruno (der, in die Lehrerin heimlich verliebt, als einziger ihr Geheimnis ahnt) wiederholt vor versammelter Klasse demütigt, wenn sie den Schülern mit kalter Begeisterung von den Untaten Gilles de Rais’ erzählt, wenn sie das Objekt ihrer gnadenlosen Begierde dem Zorn der Menge ausliefert: »Mademoiselle, c’était lui?« – »Oui!«

R Tony Richardson B Jean Genet, Marguerite Duras K David Watkin A Jacques Saulnier S Antony Gibbs P Oscar Lewenstein D Jeanne Moreau, Ettore Manni, Keith Skinner, Umberto Orsini, Jacques Monod | F & UK | 100 min | 1:2,35 | sw | 12. Mai 1966

# 1070 | 21. August 2017

11.5.66

La guerre est finie (Alain Resnais, 1966)

Der Krieg ist vorbei

Der Krieg ist vorbei. Der Krieg endet nie. Jedenfalls nicht für die Verlierer. Yves Montand spielt Diego alias Domingo alias Carlos, einen spanischen Kommunisten, der ein Vierteljahrhundert nach dem (offiziellen) Ende der Guerra civil immer noch, immer wieder, immer weiter kämpft – als sei ihm der Krieg zum simplen Lebensbedürfnis geworden, so wie essen, trinken, schlafen, Sex. Obwohl er Sinn und Chance der Untergrundaktionen, an denen er beteiligt ist, wiederholt skeptisch, ja pessimistisch hinterfragt (was seine Genossen gar nicht zu schätzen wissen), obwohl er Erfüllung in der Liebe (zu Marianne = Ingrid Thulin oder zu Nadine = Geneviève Bujold) finden könnte, setzt er sich weiterhin der Gefahr für Leib und Leben aus, bleibt er der revolutionären Sache treu. Alain Resnais inszeniert – nach einem Drehbuch von Jorge Semprún (der wußte, wovon er schreibt) – mit reservierter Anteilnahme die Geschichte eines stoischen Weitermachens, erforscht in transparenten Bildern (Kamera: Sacha Vierny) die Widersprüche und Zusammenhänge von Politik und Psychologie, Glauben und Gewohnheit, Zweifel und Disziplin. PS: »Nicht der Krieg ist revolutionär, der Friede ist revolutionär.« (Jean Jaurès) Aber auch: »Man kann den Krieg nur durch den Krieg abschaffen.« (Mao Dzedong)

R Alain Resnais B Jorge Semprún K Sacha Vierny M Giovanni Fusco A Jacques Saulnier S Eric Pluet P Anatole Dauman D Yves Montand, Ingrid Thulin, Geneviève Bujold, Jean Dasté, Michel Piccoli | F & I | 121 min | 1:1,66 | sw | 11. Mai 1966

6.5.66

Der Mörder mit dem Seidenschal (Adrian Hoven 1966)

Als sie durch den Briefschlitz blickt, muß die neunjährige Halbwaise Claudia (Susanne Uhlen) die Er­mordung ihrer Mutter mit ansehen. Den Täter hat sie erkannt. Was dem Schurken nicht entgangen ist … Regisseur Adrian Hoven (der auch die Nebenrolle eines nicht unsympathischen Windhunds spielt) inszeniert eine doppelte, eigentlich eine doppelt-doppelte Verfolgungsjagd: Die Polizei sucht den flüchtigen Mörder und das ausgerissene Mädchen, der Mörder geht auf die Spur der kleinen Zeugin, die wiederum (beinahe zwanghaft) dem Mörder nachsetzt. Seidenschal-Killer Boris Garrett (Carl Möhner) ist ein unehrenhaft entlassener amerikanischer Besatzungssoldat, ein Schieber und gewerbsmäßiger Aufreißer, ein Relikt der verworrenen Nachkriegszeit. Auch die Stadt trägt die Erinnerung ans Gestern noch an und in sich: Bunkerruinen am Hafen und schäbige Straßen, verwohnte Zinshäuser und schwatzhafte alte Greißlerinnen. Hoven versieht seinen gelegentlich etwas zu betulich dargebotenen (Sex-and-)Crime-and-Money-Reißer mit viel Lokalkolorit: Die Hatz führt durch ein frostig-abweisendes Wien jenseits des Schmäh (Kaffeehäuser, Naschmarkt und Prater zeigen sich von ihrer grauesten Seite) und endet in der Kanalisation, so wie damals, als noch der philosophische Erzhalunke Harry Lime sein zitheruntermaltes Unwesen trieb. Indes liefert kein einheimischer Heurigenmusiker sondern der Berliner Cool-Jazzer Johannes Rediske den Soundtrack zur urbanen Pulp-Mär von Grausamkeit und Unschuld.

R Adrian Hoven B Adrian Hoven, Wolf Neumeister V Thea Tauentzien K Hans Jura, Bob Klebig M Johannes Rediske A Nino Borghi S Frederick Richards P Adrian Hoven, Pier A. Ciminneci D Carl Möhner, Susanne Uhlen, Folco Lulli, Harald Juhnke, Adrian Hoven | D & I | 82 min | 1:1,66 | sw | 6. Mai 1966

# 793 | 7. November 2013

5.5.66

Modesty Blaise (Joseph Losey, 1966)

Modesty Blaise – Die tödliche Lady

»She is the shadow on your bedroom wall, / she is the dream you never found.« Hätte Michelangelo Antonioni jemals einen James-Bond-Film inszeniert, wäre das Ergebnis vielleicht ähnlich sonderbar ausgefallen wie Joseph Loseys trivial-traumverlorene Adaption eines zeitgeistigen ›Evening Standard‹-Comics. Monica Vitti als vollblütig-zweifelhafte Weltklassesagentin Modesty Blaise, Terence Stamp als lässig-zupackender Sidekick Willie Garvin, Dirk Bogarde als arglistig-geschmäcklerischer Schurke Gabriel, Rossella Falk als gelangweilt-sadistische Schergin Mrs. Fothergill – der Cast ist quintessentiell sixties; das Design schillert vielfarbig zwischen Op und Pop; die Regie verweigert nicht nur konsequent jede dramatische Sensation in dieser läppischen Spionagestory um Diamanten, Ölscheichs und verspielte Folter, in diesem artifiziellen Abenteuer zwischen London, Amsterdam und Mittelmeer, sie unterläßt auch genüßlich das herkömmliche Erzählen: Es reiht sich einfach nur Moment an Moment, Panel an Panel. Damit ist »Modesty Blaise« in gewisser Weise wieder dort angekommen, wo ihre ästhetischen Wurzeln liegen – beim daily strip. 


R
Joseph Losey B Evan Jones V Peter O’Donnell K Jack Hildyard M John Dankworth A Richard Macdonald S Reginald Beck P Joseph Janni D Monica Vitti, Terence Stamp, Harry Andrews, Dirk Bogarde, Rosella Falk | UK | 119 min | 1:1,66 | f | 5. Mai 1966

Arabesque (Stanley Donen, 1966)

Arabeske

Drei Jahre nach »Charade« präsentiert Stanley Donen eine weitere Thrillerkomödie, sozusagen die Neuauflage des Originals mit anderen Mitteln: Gregory Peck als Audrey Hepburn, Sophia Loren als Cary Grant, London in der Rolle von Paris. »Arabesque«, comichaft-politische Intrige und romantisch-abenteuerlicher clash of civilizations (Okzident trifft Orient), ist ein noch verzwickteres, noch formverliebteres Werk als sein Vorgänger: ein bravouröses Spiel mit verschobenen Perspektiven, eine Art filmischer LSD-Rausch. Das Auge der Kamera (Christopher Challis) blickt ständig durch gläserne Tischplatten oder glitzernde Aquarien, durch reflektierende Scheiben oder in verzerrende Spiegel. Die Handlung ist, vorsichtig gesagt, labyrinthisch, und unterwegs haben die Drehbuchautoren vor lauter fröhlicher Überspanntheit ganz offensichtlich den einen oder anderen Faden verloren – aber egal: Der übersprudelnde visuelle Ideenreichtum macht aus »Arabesque« einen amüsanten Höhepunkt im Schaffen eines der großen Stilisten der Kinogeschichte.

R Stanley Donen B Peter Stone, Julian Mitchell, Stanley Price V Gordon Cotler K Christopher Challis M Henry Mancini A Reece Pemberton S Frederick Wilson P Stanley Donen D Gregory Peck, Sophia Loren, Alan Badel, Kieron Moore, Carl Duering | USA | 105 min | 1:2,35 | f | 5. Mai 1966

4.5.66

Un angelo per Satana (Camillo Mastrocinque, 1966)

Ein Engel für den Teufel 

Das ersten Einstellungen des Films zeigen einen Nachen, der über einen spiegelglatten herbstlichen See gleitet; ein Mann mit breitkrempigem Hut und dunklem Pelerinenmantel wird zu einem abgeschiedenen Dorf gerudert – die Szene evoziert Bilder von der letzten Überfahrt, von der Reise ins Jenseits, und tatsächlich fällt bald schon der Schatten des Todes auf die kleine Gemeinde am Ufer des stillen Wassers … Roberto Menigi (Anthony Steffen) kommt auf das Anwesen der Familie Montebruno, um eine nach 200 Jahren aus dem See geborgene Statue zu restaurieren; eine örtliche Legende aber sagt, daß die aus der Versenkung geholte Skulptur Kummer und Leid über die Bewohner des Ortes bringen werde. Das Standbild zeigt die schöne Maddalena de Montebruno in ihrer ganzen sinnlich-körperlichen Pracht, und es gleicht auf verblüffende Weise ihrer jungen Nachfahrin Harriet (Barbara Steele), die aus dem Pensionat nach Hause zurückkehrt, um ihr Erbe anzutreten. Ein weiteres Mal nach »La cripta e l’incubo« erzählt Camillo Mastrocinque von einer Heimsuchung durch böse Geister der Vergangenheit: Ein Schreckbild aus früher Zeit stülpt sich über ein unschuldiges Wesen, und so mutiert die züchtige Harriet zu einem männermordenden Vamp, zu einer sadistischen Hexe, deren wollüstige Arglist ein Chaos aus Mord und Selbstmord, Vergewaltigung und Brandstiftung heraufbeschwört. Wenn auch die Handlungsführung nicht immer ganz ausgegoren wirkt und sich der dämonische Spuk am Ende als Ausfluß einer ganz irdischen Schlechtigkeit erweist, tauchen doch Steeles kalte Erotik und gespenstige Motive wie lockende Rufe aus dem Schattenreich oder sprechende Gemälde die Schauemär in eine bemerkenswert hysterisch-morbide Atmosphäre.

R Camillo Mastrocinque B Giuseppe Mangione, Camillo Mastrocinque V Luigi Emmanuele K Giuseppe Aquari M Francesco De Masi A Alberto Boccianti S Gisa Radicchi Levi P Liliana Biancini D Barbara Steele, Anthony Steffen, Claudio Gora, Ursula Davis, Maureen Melrose (= Marina Berti) | I | 90 min | 1:1,85 | sw | 4. Mai 1966

# 947 | 21. März 2015