29.3.66

Alfie (Lewis Gilbert, 1966)

Der Verführer läßt schön grüßen

»What’s it all about?« Leben und Treiben eines Londoner Schürzenjägers – von ihm selbst erzählt, respektive: dem Publikum in (fast) allen – amüsanten und charmanten, unappetitlichen und hundserbärmlichen – Einzelheiten direkt ins Gesicht gesagt. Alfie Elkins (Michael Caine), cockney vom Scheitel bis zur Sohle, ist immerhungriger Genußmensch, einfallsreicher Süßholzraspler, straßenköterhafter Leichtfuß und, auf seine Art, lupenreiner Demokrat. Denn in seinen Augen sind sie alle gleich: das nette Mädchen von nebenan und die notorisch untervögelte Ehefrau, das Landei mit dem melancholischem Blick und die bumsfidele Dame in den besten Jahren – eine wie die andere nur Gelegenheit, Objekt, Verbrauchsmaterial, Zwischenspiel. Lewis Gilberts lehrreich-schonungsloses (Selbst-)Portrait eines – zunächst gewinnenden, später bestenfalls mitleiderregenden – Chauvinisten, der auch nach der kaltschnäuzigsten Niedertracht lediglich um sich selber weint, bestrickt bei aller Trostlosigkeit durch Caines authentisch-distanziertes Spiel und den intensiv-unterkühlten Jazz-Score von Sonny Rollins. PS: »My understanding of women only goes as far as the pleasure. When it comes to the pain I’m like any other bloke: I don’t want to know.«

R Lewis Gilbert B Bill Naughton V Bill Naughton K Otto Heller M Sonny Rollins A Peter Mullins S Thelma Connell P Lewis Gilbert D Michael Caine, Julia Foster, Shelley Winters, Jane Asher, Vivien Merchant, Denholm Elliott | UK | 114 min | 1:2,35 | f | 29. März 1966

# 1163 | 2. Juli 2019

17.3.66

Es (Ulrich Schamoni, 1966)

Es: das Kind, das sie (Sabine Sinjen) nicht will, weil sie glaubt, daß er (Bruno Dietrich) es nicht will. Es: das ungestüme Bauwesen, das auch das noch zerstört, was der Bombenkrieg verschonte. Es: das Westberlin kurz nach dem Mauerbau – Stadt der Brachflächen und Brandmauern, der Schnellstraßen und Friedhöfe, der Witwen und Abschreibungsritter, der modischen jungen Paare und der alten Tanten aus dem Osten. Ulrich Schamonis dynamisches Debüt offeriert weniger tieflotende Analyse denn feuilletonistische Momentaufnahmen, weniger Soziologie einer abgewrackten Metropole denn Kaleidoskop eines weltläufigen Provinzkaffs; als intuitiv-impulsiver Sammler von Augenblicken und Tonfällen, als rasender Reporter der privaten, beruflichen, gesellschaftlichen Beziehungen stellt der Autor die Lockerheit des Entwurfs über die Präzision der Ausführung. So entsteht, stickpunktartig, notizenhaft, elliptisch, das anschauliche Stimmungsbild eines Ortes zwischen Aufbruch und Erstarrung, einer Ära zwischen Ungezwungenheit und Sprachlosigkeit. »Es«: eine Zeitkapsel.

R Ulrich Schamoni B Ulrich Schamoni K Gérard Vandenberg M Hans Posegga S Heidi Genée P Horst Manfred Adloff D Sabine Sinjen, Bruno Dietrich, Horst Manfred Adloff, Bernhard Minetti, Tilla Durieux | BRD | 86 min | 1:1,37 | sw | 17. März 1966

12.3.66

Erogotoshi-tachi yori: Jinruigaku nyumon (Shohei Imamura, 1966)

Einführung in die Menschenkunde

Der nette Herr Ogata verdient sein Geld mit der Herstellung von Sexfilmen, mit Zuhälterei (Spezialität: Jungfrauen – irgendwann waren sie es jedenfalls mal) und mit der Organisation von Swinger-Partys. Leicht ist das Leben des Erotikgeschäftsmannes nicht: Polizei und Yakuza setzen ihm ebenso zu wie seine in den Wahnsinn driftende Lebensgefährtin, deren unbotmäßige Kinder sowie ihr verstorbener Gatte, der – als stumm-beredter Zierkarpfen wiedergeboren – die Patchworkfamilie komplettiert. Kein Wunder also, daß Ogata impotent wird – und sich Heilung (nicht nur) seines Leidens von der Konstruktion einer (Sex-)Puppe verspricht: Maschinen sind wenigstens ehrlich ... Shohei Imamuras wundersame Sozialsatire verhandelt – ohne visuell explizit zu werden – Themen wie Pornographie, Prostitution und Promiskuität als Ausdruck der (geschlechtlichen) Frustration einer (hab-)gierigen, zutiefst gestörten (Konsum-)Gesellschaft, in der menschliche Beziehungen nur noch als Austausch von Ware begriffen werden. Eine burleske Einführung in die Anthropologie der Moderne.

R Shohei Imamura B Shohei Imamura, Koji Numata V Akiyuki Nosaka K Shinsaku Himeda M Toshiro Kusunoki, Toshiro Mayuzumi A Hiromi Shiozawi S Matsuo Tanji P Jiro Tomoda D Shoichi Ozawa, Sumiko Sakamoto, Masaomi Kondo, Keiko Sagawa, Ganjiro Nakamura | JP | 128 min | 1:2,35 | sw | 12. März 1966