22.12.65

Doctor Zhivago (David Lean, 1965)

Doktor Schiwago

»This is an awful time to be alive.« Ein Mann zwischen zwei Frauen – und als wäre das nicht schon kompliziert genug, müssen die drei Protagonisten der ausschweifenden Erzählung sich auch noch (in verschiedenen Kombinationen) durch Weltbrand, Revolution und Bürgerkrieg schlagen: Jurij (Omar Sharif) schaut glutvoll, Lara (Julie Christie) schaut sehnsüchtig, Tonya (Geraldine Chaplin) schaut tapfer aus der epochalen Wäsche. David Lean bestreicht die russischen Weiten mit Blut und Schmalz und Tränen, Maurice Jarre läßt die Balalaikas flirren, Freddie Young träumt in Panavision von Steppe und Wäldern und Eis. Das Alte stirbt in epischer Breite, das Neue wird unter Schmerzen geboren, der (und die) Einzelne geht verloren im Zeitalter der (roten) Massen – aber im Frühjahr blühen wieder (leuchtend gelb) die Narzissen …

R David Lean B Robert Bolt V Boris Pasternak K Freddie Young M Maurice Jarre A John Box S Norman Savage P Carlo Ponti D Omar Sharif, Julie Christie, Geraldine Chaplin, Rod Steiger, Alec Guinness | USA & I | 197 min | 1:2,20 | f | 22. Dezember 1965

17.12.65

Der unheimliche Mönch (Harald Reinl, 1965)

»Er war ein Verbrecher, aber er muß sie sehr geliebt haben.« Ein Schloß des Schreckens und eine Familie im Streit, ein verschwundenes Testament und eine hübsche Erbin in Gefahr, ein Unschuldiger im Gefängnis und ein Kuttenträger mit Peitsche, ein allzu serviler Diener und ein schrulliger Künstler im Turmstübchen, nebelige Nächte und trübe Tage, ungezügelte Triebe und verirrte Gefühle, Mädchenhandel und Totenmasken, Brieftauben und Fallgruben, Schrottplätze und Windmühlen, böse Onkels und schleimige Vettern, zufällig verbundene Handlungsstränge und ein Täter aus dem Hut. Fast scheint es, als wolle Harald Reinl mit seinem fünften Beitrag zu Reihe ein definitives Edgar-Wallace-Kompendium schaffen. Der Mörder trägt passenderweise den unscheinbarsten Rollennamen, und eine küchenpsycholgische Erläuterung der Motivation seines destruktiven Verhaltens gibt es auch: »Er muß in seiner Jugend einmal sehr enttäuscht worden sein. So empfand er nur Haß und Rache gegen alles Weibliche. Daher auch die symbolhafte Verkleidung als Mönch.« Danke, Dr. Reinl.

R Harald Reinl B J. Joachim Bartsch, Fred Denger V Edgar Wallace K Ernst W. Kalinke M Peter Thomas A Wilhelm Vorwerg, Walter Kutz S Jutta Hering P Horst Wendlandt D Harald Leipnitz, Karin Dor, Eddi Arent, Siegfried Schürenberg, Ilse Steppat | BRD | 85 min | 1:1,66 | sw | 17. Dezember 1965

# 796 | 11. November 2013

16.12.65

The Spy Who Came in from the Cold (Martin Ritt, 1965)

Der Spion, der aus der Kälte kam 

Die Atmosphäre ist grau, verregnet und alkoholisch: Richard Burton als Geheimagent, der glaubt, das Spiel zu spielen, aber nur wie eine beliebige Figur übers Brett geschoben wird. Spionage ohne Martinis, ohne Smokings, ohne Gadgets – die einzige Regel ist Nützlichkeit, und die Lizenz zu töten haben die anderen. Ein frostiger Film mit imposantem Cast: Claire Bloom als ehrliche Dumme, Cyril Cusack, Michael Hordern, Oskar Werner und Peter van Eyck als Lemuren des Kalten Krieges. Die Hoffnung, so sagt man, stirbt zuletzt. »The Spy Who Came in from the Cold« spielt anschließend.

R Martin Ritt B Paul Dehn, Guy Trosper V John le Carré K Oswald Morris M Sol Kaplan A Tambi Larsen, Hal Pereira S Anthony Harvey P Martin Ritt D Richard Burton, Claire Bloom, Cyril Cusack, Oskar Werner, Peter van Eyck | UK | 112 min | 1:1,85 | sw | 16. Dezember 1965

10.12.65

Viva Maria! (Louis Malle, 1965)

Viva Maria!

Umsturz und Froufrou: Höchst charmante Revolutionsoperette um zwei aufgerüschte Tingeltangel-Diseusen, die Anfang des 20. Jahrhunderts das darbende Volk einer lateinamerikanischen Bananenrepublik zum Aufstand führen. Wer Brigitte Bardot (Maria I) und Jeanne Moreau (Maria II) beim sexy Freiheitskampf zusieht, bekommt bald schon selber Lust, einmal ans Maschinengewehr zu treten, um schwitzenden Exploiteuren und ihren elenden Schergen gehörig eins vor den Latz zu knallen.

R Louis Malle B Louis Malle, Jean-Claude Carrière K Henri Decaë M Georges Delerue A Bernard Evein S Kenout Peltier, Suzanne Baron P Oscar Dancigers D Brigitte Bardot, Jeanne Moreau, George Hamilton, Gregor von Rezzori, Paulette Dubost | F & I | 120 min | 1:2,35 | f | 10. Dezember 1965

9.12.65

Thunderball (Terence Young, 1965)

James Bond 007 – Feuerball 

»His fight goes on and on and on.« James Bond (zu routiniert: Sean Connery) auf der Suche nach zwei in erpresserischer Absicht entführten NATO-Atomsprengköpfen. Die Spur führt ziemlich umweglos auf die Bahamas, wo der Doppelnull-Agent in schier endlose Unterwasserermittlungen verwickelt wird. Das Hirn des Bombnappings, SPECTREs ›Number Two‹ (Adolfo Celi), hat, trotz Augenklappe, Haifischbecken und Millionärsyacht, leider nur die Strahlkraft eines Hilfsteufels – wodurch der badeferienhaft-submarine Erzählrhythmus nicht eben an Dramatik gewinnt. So sorgen lediglich die Heimtücke von henchwoman Fiona Volpe (Luciana Paluzzi) sowie Ken Adams märchenhafte Konferenzraum-Architekturen (ultramodern-simplizistisch bei den Bösen, neobarock-monumental bei den Guten) für sporadische Aha-Effekte.

R Terence Young B Richard Maibaum, John Hopkins, Jack Whittingham V Ian Fleming, Kevin McClory, Jack Whittingham K Ted Moore M John Barry A Ken Adam S Peter Hunt P Kevin McClory, Albert R. Broccoli, Harry Saltzman D Sean Connery, Claudine Auger, Adolfo Celi, Luciana Paluzzi, Rik Van Nutter | UK | 130 min | 1:2,35 | f | 9. Dezember 1965

8.12.65

Fantômas se déchaîne (André Hunebelle, 1965)

Fantomas gegen Interpol

In der Maske der Unschuld schaut das Medium Kino zurück auf seine Kindertage, beschwört noch einmal die Welt der unterirdischen Gewölbe, wo geheimnisvolle Verschwörungen ausgeheckt werden, eine Welt, in der sich Holzbeine in Maschinenpistolen verwandeln und Autos in Flugzeuge. »Fantômas se déchaîne« – der zweite Teil des Serial-Aufgusses um den niederträchtigen Blaumann, den heroischen Reporter und den zappeligen Kommissar (der sich den Gegner verwandlungstechnisch zum Vorbild nimmt und nacheinander als Eisenbahnschaffner, italienischer General, Hoteldiener, Monsignore und Pirat auftritt) – wirkt naiv im unmittelbaren Sinne des Wortes: unbefangen und kindlich, ist dabei Lichtjahre entfernt vom formalen Modernismus der silbernen Sechziger (der nichtsdestoweniger spielerisch als Kulisse genutzt wird), zugleich durchdrungen vom Schwung einer Ära, die den Citroën DS erfindet, blind an die Zukunft glaubt und sich (beinahe) erfolgreich die eigene Arglosigkeit vorlügt. Die Innovation des Films liegt (wenn überhaupt) weder in der Erzählform, noch in Bildkomposition oder Montage sondern in der Verbindung von gnadenlosem Slapstick (ein weiterer Rückgriff auf die Frühzeit der Filmkunst) und gnadenlosem Verbrechen – es ist ein sehr subtiler Zynismus, der hier waltet. »Die Menschen«, heißt es in einem Film von Jean-Pierre Melville, »werden unschuldig geboren, aber sie bleiben es nicht.« Dieser Satz könnte auch für das Kino gelten. PS: »Fantômas, je te retrouverai, tu seras puni!«

R André Hunebelle B Jean Halain, Pierre Foucaud V Pierre Souvestre, Marcel Allain K Raymond Lemoigne M Michel Magne A Max Douy S Jean Feyte P Paul Cadéac, Alain Poiré D Jean Marais, Louis de Funès, Mylène Demongeot, Jacques Dynam, Robert Dalban | F & I | 94 min | 1:2,35 | f | 8. Dezember 1965

4.12.65

Les tribulations d’un Chinois en Chine (Philippe de Broca, 1965)

Die tollen Abenteuer des Monsieur L.

Jean-Paul Belmondo als poor little rich boy Arthur Lempereur, der von seinem sorgenfreien aber glücklosen Leben zu Tode gelangweilt ist und einfach nur sterben möchte. Weil alle Suizidversuche kläglich scheitern, beauftragt der Daseinsmüde einen wohlmeinenden Freund, die Vollstreckung seines letalen Wunsches zu organisieren. Just zu diesem Zeitpunkt verliebt sich Arthur in die hinreißende Alexandrine (Ursula Andress als unternehmungs­lustige Stripteasetänzerin) – wodurch sich dem Milliardär Wert und Sinn der menschlichen Existenz urplötzlich erschließen. Die nun folgende halsbrecherische Flucht (bzw. Jagd) vor (bzw. nach) den Killern, die ihn von seinem Seelenleiden befreien sollten, führt den Todeskandidaten – nebst taffer Flamme und würdevollem Butler Léon (Jean Rochefort) – von Hongkong nach Indien, hoch hinauf in den Himalaya und tief in den asiatischen Dschungel, hinaus aufs Meer zu tropi­schen Inseln und wieder zurück in den heimischen Hafen. Frei nach einem Roman von Jules Verne (und mit reichlich Anspielungen auf die gefahrvollen Abenteuer von Tim und Struppi versehen) entzündet de Philippe de Broca ein chinesisches Feuerwerk des tollkühnen Slapstick und der possenhaften Nervenkitzel, ohne allerdings die saloppe Leichtigkeit des brillanten Vorgängers »L’homme de Rio« noch einmal zu erreichen.

R Philippe de Broca B Daniel Boulanger V Jules Verne K Edmond Séchan M Georges Delerue A François de Lamothe S Françoise Javet P Georges Dancigers, Alexandre Mnouchkine D Jean-Paul Belmondo, Ursula Andress, Jean Rochefort, Valéry Ikijinoff, Mario David | F & | 104 min | 1:1,85 | f | 4. Dezember 1965

1.12.65

Io la conoscevo bene (Antonio Pietrangeli, 1965)

Ich habe sie gut gekannt

Sie heißt Adriana. Sie ist noch keine zwanzig. Sie lebt in einem Städtchen am Meer. Sie arbeitet in einem Frisiersalon. In der Mittagspause liegt sie in der Sonne. Sie träumt vom Abenteuer des süßen Lebens. Sie macht sich keine Gedanken. Sie hat einen schönen Körper. Sie ist fröhlich. Sie zieht nach Rom. Sie findet Beschäftigung als Komparsin, als Mannequin, als Hosteß. Sie geht auf Partys. Sie kann sich ein modernes Apartment leisten, ein kleines Auto, schicke Kleider und extravagante Perücken. Sie hört immerzu Schlager, aus dem Kofferradio und vom Plattenspieler. Die Schlager sprechen vom Glück, das sie erhofft, ohne zu wissen, wie es sich anfühlen könnte. Ihr Dasein zerfällt in flüchtige Momente, in folgenlose Begegnungen: mit einem Agenten, mit einem Gigolo, mit einem Fotografen, mit einem Boxer, mit einem Produzenten, mit einem Garagisten, mit einem Nachbarsjungen. Sie ist ohne Scheu. Sie wird benutzt. Sie bleibt alleine in der (Männer-)Welt. Ein Schriftsteller sagt über sie, sie möge jeden, sie sei immer zufrieden, sie wolle nichts, sie beneide niemanden, sie sei nicht neugierig, man könne sie nicht überraschen, ihr geschähen schlimme Dinge, ohne Spuren zu hinterlassen, sie habe keine Moral und keinen Ehrgeiz, sie sei keine Hure, denn Geld sei ihr egal, für sie existierten weder Vergangenheit noch Zukunft, sie lebe auch nicht von Tag zu Tag, denn das würde sie überfordern, sie lebe von Minute zu Minute, allzeit auf der Suche nach neuen, vorübergehenden Zusammentreffen, egal mit wem … Stefania Sandrelli spielt Adriana, das austauschbare It-Girl der besinnungslosen Konsumgesellschaft, die beschwingte Märtyrerin des demokratischen Materialismus. Adriana gibt alles, was sie hat; sie bekommt dafür nichts, was ihr bleibt. Antonio Pietrangeli erzählt keine Biographie; er setzt seine Protagonistin in Szene(n): jeder Auftritt so schön, so scheußlich, so eskapistisch, so abgrundtief, so falsch, so wahr, so ausdrucksvoll, so komprimiert wie ein Schlager.

R Antonio Pietrangeli B Antonio Pietrangeli, Ettore Scola, Ruggero Maccari K Armando Nannuzzi M Piero Piccioni A Maurizio Chiari S Franco Fraticelli P Turi Vasile, Luggi Waldleitner D Stefania Sandrelli, Jean-Claude Brialy, Nino Manfredi, Joachim Fuchsberger, Ugo Tognazzi, Franco Nero, Mario Adorf | I & F & BRD | 115 min | 1:1,85 | sw | 1. Dezember 1965

La decima vittima (Elio Petri, 1965)

Das zehnte Opfer

Zur Kanalisierung von Aggressionen, zur präventiven Abfuhr von Gewalt hat die Staatengemeinschaft ein weltweites Todesspiel initiiert: »Die große Jagd« ersetzt Verbrechen und Krieg. Zehnmal müssen die Teilnehmer antreten, immer abwechselnd als Jäger und Opfer. Wer alle Runden überlebt, erwirbt den Titel »Dekathlet« und eine Million Dollar als Siegesprämie. Elio Petris exzentrische Action-Satire führt von New York, wo Caroline Meredith (rassig: Ursula Andress) im »Club Masoch« souverän einen Jäger austrickst, nach Rom (die alte Heimat von »panem et circenses«), wo die Kandidatin ihr nächstes (zehntes = letztes) Opfer erledigen muß. Der lässige Latin Lover Marcello Poletti (blondiert: Marcello Mastroianni), selbst ein erfahrener Wettkämpfer, weiß sich freilich seiner Haut nonchalant zu wehren. »La decima vittima« befaßt sich hinlänglich mit den medialen Implikationen des modernen Gladiatorenkampfs: Caroline will ihren Gegner für »Ming Tea« im Tempel der Venus (!) abknallen, Marcello plant, seine Kontrahentin für »Cola 80« an ein Krokodil zu verfüttern – Töten als definitiver Werbegag. Letzten Endes tritt jedoch die Gesellschaftskritik zugunsten von dekorativ-futuristischen Op’n’Pop-Fantasien in den Hintergrund: Kostüm und Dekor scheinen Petri allemal wichtiger zu sein als Analyse und Reflexion – Töten als extravagante (von Gianni Di Venanzo delikat fotografierte) Modestrecke.

R Elio Petri B Tullio Pinnelli, Ennio Flaiano, Giorgio Salvioni, Elio Petri V Robert Shackley K Gianni Di Venanzo M Piero Piccioni A Piero Poletto S Ruggero Mastroianni P Carlo Ponti D Marcello Mastroianni, Ursula Andress, Elsa Martinelli, Massimo Serrato, Jacques Herlin | I & F | 96 min | 1:1,85 | f | 1. Dezember 1965

# 967 | 8. August 2015

19.11.65

Return from the Ashes (J. Lee Thompson, 1965)

Eine Tür fällt zu

»What I am about to propose to you is bizarre, grotesque.« In der Tat: Stanislaus will eine Unbekannte, die seiner totgeglaubten Ehefrau Michelle verblüffend ähnlich sieht, dazu überreden, in die Rolle der Verstorben zu schlüpfen, um deren von Staats wegen eingefrorenen Vermögens habhaft zu werden. Stanislaus’ Angebot erscheint umso bizarrer, grotesker, da Michelle einst als Jüdin in ein deutsches Konzentrationslager verschleppt wurde. Am bizarrsten, groteskesten ist freilich der Umstand, daß die Unbekannte niemand anderes ist als die Ehefrau selbst, die sich als Holocaust-Überlebende – »rewarded, curious, shocked, even thrilled« – auf das morbide Manöver einläßt … »Return from the Ashes«, eine Erzählung vom Leben nach dem Tod, spielt kurz nach dem Ende der Okkupation in Paris; eine Rückblende führt in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als der mittellose Schachspieler Stanislaus (Maximilian Schell) und die wohlhabende Röntgenärztin Michelle (Ingrid Thulin) einander kennenlernten. »If there is no god, no devil, no heaven, no hell, no immortality, then everything is permissible« – eine Dostojewski-Paraphrase steht als Motto über ihrer ersten Begegnung, eine eisige Mordintrige (in die auch Michelles biestige Stieftochter Fabienne (Samantha Eggar) verwickelt ist) bildet den Abschluß der leidenschaftlich-lieblosen Beziehung. J. Lee Thompson experimentiert in seinem melodramatischen Thriller – nicht immer ganz überzeugend, bisweilen die Lächerlichkeit streifend – mit der filmischen Umsetzung der Spezifika von Schach und Röntgenstrahlung: Kalte Berechnung und ungerührte Bloßlegung prägen den Film auf formaler und erzählerischer Ebene. Der (gewissermaßen post-apokalyptische) Plot erscheint bizarr, grotesk – aber war der Holocaust nicht auch unbegreiflich?

R J. Lee Thompson B Julius J. Epstein V Hubert Monteilhet K Christopher Challis M John Dankworth A Michael Stringer S Russell Lloyd P J. Lee Thompson D Ingrid Thulin, Maximilian Schell, Samantha Eggar, Herbert Lom | UK | 105 min | 1:2,35 | sw | 19. November 1965

# 903 | 21. August 2014

12.11.65

Lásky jedné plavovlásky (Miloš Forman, 1965)

Die Liebe einer Blondine

Die 18jährige Andula (Hana Brejchová) arbeitet in einer Schuhfabrik irgendwo in der langweiligen tschechischen Provinz. Sie geht mit Tonda, der ihr einen Ring geschenkt hat, flirtet mit einem Förster, der ihr vom abwechslungsreichen Paarungsverhalten der Tiere erzählt, landet nach einem Tanzvergnügen mit notgeilen mittelalten Reservisten im Bett des aus Prag angereisten Pianisten Milda, der ihr nach dem Schäferstündchen erklärt, sie sei wie eine Gitarre, aber nicht so weich geschwungen wie eine echte, sondern so kantig wie eine von Picasso gemalte. Ob es sich dabei um ein Kompliment handelt, bleibt offen. Miloš Forman komponiert aus sensibel beobachteten Alltagsmomenten das pointillistische Portrait einer ebenso sehnsüchtigen wie launenhaften jungen Frau sowie das Bild einer Gesellschaft, in der die Sehnsüchte und Launen einer jungen Frau keinen Platz haben. Als Andula ihrem One-Night-Lover nachfährt, weil sie (im Grunde ohne nachvollziehbaren Grund) von einer glücklichen Zukunft in der großen Stadt träumt, erlebt sie in Mildas Familie Gleichgültigkeit, Befremden, Zurückweisung. Ihre Illusionen läßt sie sich gleichwohl nicht nehmen: Ein wunderschöner Ausflug sei es gewesen, berichtet Andula ihrer besten Freundin nach der Rückkehr in die Fabrik, die Eltern des Geliebten hätten sich als reizend erwiesen, und von nun an werde sie wohl häufiger nach Prag reisen.

R Miloš Forman B Miloš Forman, Jaroslav Papoušek, Ivan Passer K Miroslav Ondříček M Evžen Illín A Karel Černý S Miroslav Hájek P Vladimír Bor, Jiří Šebor D Hana Brejchová, Vladimír Pucholt, Josef Sebánek, Milada Jezková, Antonín Blazejovský, Vladimír Menšík | CS | 77 min | 1:1,37 | sw | 12. November 1965

# 1173 | 18. August 2019

5.11.65

Le tigre se parfume à la dynamite (Claude Chabrol, 1965)

Der Tiger parfümiert sich mit Dynamit

In seinem zweiten (und letzten) Abenteuer verschlägt es den ›Tiger‹ Louis Rapière (Roger Hanin, der auch wieder das Drehbuch schrieb) nach Südamerika; der französische Agent soll den Rücktransport eines Goldschatzes überwachen, der aus einer einstmals vor Cayenne gesunkenen Galeone geborgen wurde. Das Gold wird gestohlen, und schon bald tut sich der Abgrund einer revolutionären Verschwörung auf: Die kryptofaschistische Geheimorganisation ›Orchidee‹ (unter Führung eines gewissen Hans Heinz von Wünschendorf) plant, nach dem Motto »heute gehört uns Guayana und morgen die ganze Welt«, den Umsturz in der Dschungelkolonie. Claude Chabrol verrührt Waffenschmuggel, Atomsprengköpfe und eine vage Rasseideologie zu einem klumpig-faden (im sonnigen Andalusien gedrehten) Thrillerpotpourri, das weder Michel Bouquet (als fanatischer Zoodirektor) noch Margaret Lee (als suspekte Amerikanerin Pamela Mitchum) und auch nicht ein Kurzauftritt des Regisseurs (als versoffener Röntgenarzt, der einen toten Hai durchleuchtet) aufwürzen können. Einzig die in Bouquets Tierpark spielende Schlußszene des Films erreicht eine gewisse surreale Qualität: Die Showdown-Montage, die statt des eigentlichen Schußwechsels Bilder eingesperrter, brüllender, flatternder Kreaturen zeigt, mag Stanley Donen und Luis Buñuel als Inspiration für ähnliche Sequenzen in »Arabesque« und »Le fantôme de la liberté« gedient haben.

R Claude Chabrol B Antoine Flachot (=Roger Hanin), Jean Curtelin K Jean Rabier M Jean Wiener A Juan Alberto Soler S Jacques Gaillard P Christine Gouze-Rénal D Roger Hanin, Margaret Lee, Michel Bouquet, Roger Dumas, Dodo Assad Bahador | F & I & E | 86 min | 1:1,66 | f | 5. November 1965

23.10.65

Giulietta degli spiriti (Federico Fellini, 1965)

Julia und die Geister

»Wo keine Götter sind, walten Gespenster.« (Novalis) … Giulietta (Masina), eine leicht verspannte Frau von 40 Jahren, stürzt über die sträfliche Vernachlässigung durch ihren flotten Ehemann Giorgio (Mario Pisu) und wegen der parfümierten Verachtung, die ihre mondäne Mutter (Caterina Boratto) für sie hegt, in eine (filmisch höchst attraktive) Sinn- und Lebenskrise. Die tiefe Verunsicherung der großbürgerlichen Gattin äußert sich als Flucht in modischen Spiritismus und in Form zahlreicher Spukgestalten (unter ihnen die hexenhafte Ausdruckstänzerin Valeska Gert) – personifizierte Wunschvorstellungen oder lebendig gewordene Angstbilder, Inkarnationen von Schuldgefühlen oder Dämonen der Vergangenheit –, allesamt Erscheinungen, die aus der Tiefe von Giuliettas Seele aufsteigen und sich mit guten (oder weniger guten) Ratschlägen in ihre Probleme mischen. Die Heldin sucht die Leere ihrer Existenz mit überbordender Einbildungskraft zu füllen, doch erst als sie sich (buchstäblich) aus der Gefangenschaft ihrer (Plage-)Geister befreit, gelingt es ihr, die Fesseln der Fremdbestimmung (durch gesellschaftliche (und familiäre) Erwartungen sowie aufgezwungener Rollenmuster) zu sprengen. Federico Fellini arrangiert seine surreale Phantasie über die Emanzipation als farbenprächtig-symbolistischen Trip aus Sperrholz und Bri-Nylon (Bauten und Kostüme: Piero Gherardi), als (von Gianni di Venanzo) opulent fotografierten kinematographischen Augenschmaus.

R Federico Fellini B Federico Fellini, Ennio Flaiano, Tullio Pinelli, Brunello Rondi K Gianni Di Venanzo M Nino Rota A Piero Gherardi S Ruggero Mastroianni P Angelo Rizzoli D Giulietta Masina, Sandra Milo, Mario Pisu, Valentina Cortese, José Luis de Vilallonga | I & F | 137 min | 1:1,85 | f | 23. Oktober 1965

25.9.65

Popioły (Andrzej Wajda, 1965)

Legionäre

»Uns zeigte Bonaparte / wie wir siegen sollen …« Die Schicksale dreier polnischer Edelmänner in der Wirrsal der napoleonischen Kriege: Die Nation dieser (Anti-)Helden wider Willen ist von der Landkarte verschwunden, aufgeteilt unter Preußen, Russen und Österreicher. Polen existiert nur mehr in den polnischen Köpfen, in den polnischen Herzen, in den polnischen Träumen. Andrzej Wajda entwirft ein schier endloses Schlachtenpanorama voller barocker Symbolismen und (wut-)schnaubender Pferde, ein weiträumig-verzweifeltes Fresko, das – über 15 Jahre Erzählzeit hinweg – vom besetzten Warschau bis vor die Tore Saragossas führt, von der winterlichen Weichsel nach Italien, von der Karibik an die Beresina. Unter der Ägide des Kaisers (»Niech zyje Cesarz!« = »Vive l'empereur!«), Verkörperung einer revolutionären Macht, die stets das Gute will und stets das Böse schafft, versklaven polnische Legionäre die Neger von San Domingo, morden Nonnen in spanischen Klöstern, nehmen eigene Dörfer unter Feuer – sie helfen mithin, Unfreiheit in der Welt zu verbreiten, um die Freiheit ihrer Heimat zu erringen. Dramaturgie und Inszenierung sind so zerklüftet, so eruptiv, so disparat wie die paradoxen Zeitläufte: »Popioly« zelebriert Geschichte nicht in sorgfältig austarierten Tableaus, sondern entfesselt einen schnellen, bisweilen reißenden Bilderstrom (Kamera: Jerzy Lipman), einen wilden, von unbeherrschbaren (menschlichen) Kräften erzeugten tragisch-ironischen Ereignisstrudel.

R Andrzej Wajda B Aleksander Scibor-Rylski V Stefan Zeromski K Jerzy Lipman M Andrzej Markowski A Anatol Radzinowicz S Halina Nawrocka P Zygmunt Szyndler D Daniel Olbrychski, Bogusław Kiercz, Piotr Wysocki, Pola Raksa, Beata Tyszkiewicz | PL | 233/169 min | 1:2,35 | sw | 25. September 1965

15.9.65

Terrore nello spazio (Mario Bava, 1965)

Planet der Vampire

Terrore nella Cinecittà: Angelockt von rätselhaften Signalen, stranden die Mannschaften zweier Raumschiffe auf dem unwirtlichen, aber höchst kunstvoll ausgeleuchteten Kulissenplaneten Aura, wo bösartige immaterielle Wesen Jagd auf potentielle Wirtskörper machen. Diverse B- und C-Stars begeben sich in Gefahr und kommen darin um – die beiden einzigen Überlebenden gehören, soviel kann verraten werden, der überlegenen Rasse an … Mit viel Bühnennebel, Plastikfolien, Lichtblitzen, einem guten Dutzend Ledermonturen und ein paar alten Weckern (= Plutoniumbomben) zaubert Mario Bava grotesk-fantastischen Horror-Trash-Fiction, die (nicht) von Pappe ist.

R Mario Bava B Mario Bava, Alberto Beviacqua, Callisto Cosulich, Antonio Román, Rafael J. Salvia K Antonio Pérez Olea, Antonio Rinaldi M Gino Marinuzzi Jr. A Giorgio Giovannini S Romana Fortini, Antonio Gimeno P Fulvio Lucisano D Barry Sullivan, Norma Bengell, Ángel Aranda, Evi Marandi, Stelio Candelli | I & E | 88 min | 1:1,85 | f | 15. September 1965

9.9.65

Solange Leben in mir ist (Günter Reisch, 1965)

»Ein Held? Das ist ein Sozialist der Tat!« Gemessen an seiner eigenen Definition ist der Karl Liebknecht des Films (weniger verkörpert denn verstimmlicht von Horst Schulze) kein Held. Liebknecht ist ein Sozialist des Wortes. Er redet und redet und redet: Er hält Reden im Reichstag und im Kaffeehaus, in seinem Wohnzimmer und in freier Natur, im Schützengraben und vor Gericht; er richtet Adressen an seine geliebte Frau und an befreundete Proletarier, er referiert vor wutschnaubenden Gegnern und enthusiastischen Genossen, und noch zu seiner zehnjährigen Tochter spricht er wie zur Nachwelt. »Solange Leben in mir ist«, der – aus streng parteilicher Sicht – die Biographie des aufrechten, friedensliebenden Revolutionärs vom Sommer 1914 (seinem einsamen »Nein!« zu den Kriegskrediten) bis zum Sommer 1916 (seiner Verurteilung wegen »Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!« = Hochverrat) in perfekt austarierten, wie aus grauem Stein geschlagenen Breitwandbildern nachzeichnet, könnte ebensogut den Titel »Solange Stimme in mir ist« tragen.

R Günter Reisch B Michael Tschesno-Hell, Günter Reisch, Hermann Herlinghaus K Horst E. Brandt M Ernst Hermann Meyer A Willy Schiller, Dieter Adam S Bärbel Weigel P Gerd Golde D Horst Schulze, Albert Hetterle, Erika Dunkelmann, Jutta Hoffmann, Ludmilla Kasjanowa | DDR | 114 min | 1:2,35 | sw | 9. September 1965

8.9.65

La métamorphose des cloportes (Pierre Granier-Deferre, 1965)

Ganoven rechnen ab

Alphonse (Lino Ventura), genannt ›le Malin‹ (≈ der Schlaufuchs, aber auch: der Teufel, oder: einer, der sich aufspielt), ein verhältnismäßig erfolgreicher Pariser Bilderdieb, läßt sich von einem alten Kumpel (Charles Aznavour) und dessen trübtassigen Komplizen in eine zweifelhafte Safeknackerei verwickeln, infolge derer er – als einziger der Bande – in den Kahn einfährt. Nach fünf einsamen Jahren in die Freiheit entlassen, geht Alphonse, in rächender Absicht, auf die Suche nach den unsolidarischen Gefährten von einst, die sich zwischenzeitlich auf seine Kosten mittelständisch etabliert haben: einer unterhält einen Rennstall, einer ist Schausteller geworden, einer sucht sein Heil in indischer Weisheit, einer betreibt erfolgreich internationalen Kunsthandel – die wundersame Metamorphose der Kellerasseln. In Pierre Granier-Deferres kompetent inszenierter Adaption eines autobiographisch grundierten Romans des Ex-Knackis Alphonse Boudard erscheinen die bürgerliche Gesellschaft als Zerrspiegelbild der Unterwelt, die Ehrsamkeit als Fortsetzung des Verbrechens mit anderen Mitteln (et vice versa). Nicolas Hayer (der unter anderem für Clouzot und Melville tätig war) findet für das tragikomisch gefärbte Vergeltungsstück Scope-Bilder von dokumentarisch-kühler Nüchternheit, Jimmy Smiths fatalistisch-bluesiger Hammond-Sound läßt von vornherein ahnen, daß die (Ab-)Rechnung des geprellten Ganoven nicht aufgehen wird.

R Pierre Granier-Deferre B Michel Audiard, Albert Simonin V Alphonse Boudard K Nicolas Hayer M Jimmy Smith A Jacques Saulnier S Jean Ravel P Bertrand Javal, Paul Javal D Lino Ventura, Pierre Brasseur, Charles Aznavour, Irina Demick, Françoise Rosay, Daniel Ceccaldi | F & I | 98 min | 1:2,35 | sw | 8. September 1965

# 1053 | 31. Mai 2017

28.8.65

Pierrot le fou (Jean-Luc Godard, 1965)

Elf Uhr nachts

Un film d’aventure. Un roman d’amour. Un saison en enfer. Jean-Luc Godard schickt sein irres Liebespaar Pierrot (»Je m’appelle Ferdinand!«) (= Jean-Paul Belmondo) und Marianne Renoir (= Anna Karina) auf eine lange, sommerliche Kino-Flucht vor und zu sich selbst. Sam Fuller weist ihnen (und dem Publikum) die Richtung: »Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion.« Pierrot und Marianne verlassen die Stadt (die gute Gesellschaft, das dumme Geschwätz, die reichen Büffets), überfallen Tankstellen, erzählen Geschichten, lesen Comics, klauen, jagen, fischen. Während Rudimente von Handlung (irgend etwas mit Terrorismus, politischem Mord und Waffenschmuggel) wie Müll am Wegesrand liegenbleiben, geht die Reise immer weiter hinaus ins Freie – durch Realismus und Surrealismus, Zärtlichkeit und Grausamkeit, Schrecken und Komik – über Felder durch Wälder ans Meer. Die Tage vergehen. Die Liebe auch. Der Versuch der Freiheit endet – beau comme tout – mit einem Loch in der Schläfe und einem explodierenden blauen Kopf. Das Meer schweigt dazu und glitzert in der Sonne.

R Jean-Luc Godard B Jean-Luc Godard V Lionel White K Raoul Coutard M Antoine Duhamel S Françoise Collin P Georges de Beauregard D Jean-Paul Belmondo, Anna Karina, Graziella Galvani, Samuel Fuller, László Szabó | F & I | 110 min | 1:2,35 | f | 28. August 1965

25.8.65

Marie-Chantal contre Dr. Kha (Claude Chabrol, 1965)

M. C. contra Dr. Kha

»Vous êtes comme Alice. Vous êtes passées de l’autre côté du miroir.« Auf einer Zugfahrt erhält Marie-Chantal (Marie Lafôret) von einem Mitreisenden ein Schmuckstück zur vorübergehenden Aufbewahrung. Im Moment, da sie den blauen Pantherkopf mit den Rubinaugen annimmt, betritt das maliziöse Lebefräulein ein wundersames Land hinter den Spiegeln, eine Sphäre des tödlichen Wettstreits feindlicher Organisationen. Claude Chabrol erzählt (mit Anleihen bei Langs »Dr. Mabuse« und Hitchcocks »The Man Who Knew Too Much«) eine bizarre Farce um ein Killervirus, das seinen Besitzer zum Herren der Welt machen würde. Der Film, eine märchenhafte Reise von den Alpen nach Marokko, lebt vor allem von seinen Darstellern: Serge Reggiani und Charles Denner als grenzdebile Comicspione Ivanov und Johnson; Stéphane Audran als schwarze Witwe Olga, die den ganzen Horror des Lebens an der unsichtbaren Front schildert: dauernd Mord, Entführung, Sabotage, und dann noch die Sexpartys mit den Ministern; Akim Tamiroff als doppelbödiger Dr. Kha, genialischer Spieler gegen alle und gegen sich selbst. Die Heldin engagiert sich weniger aus Überzeugung denn aus Renitenz: la petite snob will das Kleinod, das man ihr überlassen hat, einfach nicht wieder hergeben. Im übrigen findet sie die Agenda des Superschurken bedauernswürdig: Absolute Macht bedeute nichts anderes als absoluten Tod. Und während die junge Frau zur Ablenkung ihr Nonnenschulen-Programm von Liebe, Zärtlichkeit und Vertrauen entwickelt, nestelt sie einen Revolver aus der Bluse … Die angelegte Fortsetzung von Marie-Chantals phantastischen Abenteuern wird Chabrol der Filmgeschichte leider schuldig bleiben.

R Claude Chabrol B Claude Chabrol, Christian-Yve, Daniel Boulanger V Jacques Chazot K Jean Rabier M Pierre Jansen A Guy Litaye S Jacques Gaillard P Georges de Beauregard D Marie Lafôret, Francisco Rabal, Stéphane Audran, Akim Tamiroff, Serge Reggiani, Roger Hanin, Charles Denner | F & I & E | 110 min | 1:1,66 | f | 25. August 1965

6.8.65

The Face of Fu Manchu (Don Sharp, 1965)

Ich, Dr. Fu Man Chu

»He’s cruel, callous, brilliant, and the most evil and dangerous man in the world«, sagt Scotland-Yard-Inspektor Nayland Smith (Nigel Green, ein Inbild des britischen Stiff-upper-lip-Kolonialoffiziers) über seinen Gegenspieler: Dr. Fu Manchu (Christopher Lee), ein besonders abgefeimtes Exemplar aus der langen Galerie promovierter Erzschurken – Dr. Caligari, Dr. Mabuse, Dr. No –, greift, wie es sich für den bösartigsten Mann der Welt gehört, nach der Herrschaft über die gesamte Menschheit. Es ist die sprichwörtliche »gelbe Gefahr«, die Fu Manchu in Harry Alan Towers’ englisch-deutscher Koproduktion fratzenhaft verkörpert, der personifizierte Angsttraum des zivilisierten Westens vor der orientalischen Despotie. Nichts weniger als »the secret of universal life« will der Superverbrecher (assistiert von seiner sadistischen Tochter Lin Tang) enträtseln, besser gesagt: aus seltenen tibetischen Samenkörnern destillieren (wozu er die mehr oder weniger freiwillige Hilfe europäischer Gelehrter benötigt), wobei es ihm als großem Zerstörer um die Überwindung des irdischen Lebens geht, um »the life after this life«, kurz: um den Tod. Der Spielort des von Don Sharp mit spröder Eleganz inszenierten, im Zwischenreich von James Bond und Edgar Wallace angesiedelten Pulp-Dramas, das behaglich-graue London der 1920er Jahre, erweist sich als längst unterhöhlt von Geheimgängen und Folterkellern, und immer wieder durchzuckt das grelle Rot einer letalen Bedrohung die stolze Selbstgewißheit der Metropole des Empire. »Remember Fleetwick«, läßt Fu Manchu mit alarmierend ruhiger Stimme über Radio verlauten; kurz darauf ist eine Kleinstadt ausgelöscht – als erpresserische Ankündigung des kommenden, noch verheerenderen Unheils. Am Ende siegt das Gute, und das Böse bekundet seine Unbesiegbarkeit: »The world shall hear from me again.«

R Don Sharp B Peter Welbeck (= Harry Alan Towers) V Sax Rohmer K Ernest Steward M Christopher Whelen A Frank White S John Trumper P Harry Alan Towers D Christopher Lee, Nigel Green, Joachim Fuchsberger, Karin Dor, Tsai Chin, Walter Rilla | UK & BRD | 96 min | 1:2,35 | f | 6. August 1965

# 864 | 21. Mai 2014

3.8.65

Darling (John Schlesinger, 1965)

Darling

»I’m as happy as anyone could possibly be.« London, die Hauptstadt der swingenden Sechziger: Auf­bruch, Hedonismus, Ungezwungenheit, das Leben als endlose Party. Eine old fashioned Metro­pole wird zum Epizenztrum der kapitalistischen Kulturrevo­lution – hier spielt John Schlesingers fellineskes Gesellschaftspanorama »Darling«: ein Röntgenbild der Oberflächlichkeit, ein leichtfüßig-frostiges Soziogramm, ein silbriges Glanzstück. Julie Christie ist Diana Scott. Sie ist jung und schön, sie wirkt natürlich und unkompliziert, sie weiß genau, was sie will, besser gesagt wohin: nach oben. Darling Diana ist ein Archetyp der Ära, »happiness girl« und »ideal woman«, Hure und Prinzessin. Männer pflastern ihren Weg: Dirk Bo­gar­de, der Intellektuelle, Laurence Harvey, der Zyniker, José de Vilallonga, der Fürst. Darling benutzt und läßt sich benutzen. Am Ende ist sie da, wo sie immer sein wollte. Sie residiert in einem Schloß, sie sieht ihr Gesicht im Spiegel, und sie weiß: »Darling’s life is a great big steaming mess.«

R John Schlesinger B Frederic Raphael K Kenneth Higgins M John Dankworth A Ray Simm S Jim Clark P Joseph Janni D Julie Christie, Dirk Bogarde, Laurence Harvey, José Luis de Vilallonga, Roland Curram | UK | 128 min | 1:1,66 | sw | 3. August 1965

1.8.65

The Alphabet Murders (Frank Tashlin, 1965)

Die Morde des Herrn ABC

»This is London. Nothing is going to happen.« Eigentlich ist der belgische (!) Meister­detektiv Hercule Poirot nur an die Themse gereist, um seinen Schneider aufzusuchen, doch die nach Aufklärung schreienden Mordtaten lassen (natürlich) nicht lange auf sich warten. Albert Aachen, Betty Bernard, Sir Carmichael Clarke, Duncan Doncaster heißen die Opfer, die mit vergifteten Pfeilen abgeschossen werden – offenbar von einer alphabetfixierten Psychotikerin (Anita Ekberg als schöne, große, blonde und völlig verrückte (?) Serienkillerin Amanda Beatrice Cross) … Mit parodistischem Gusto, cartoonesken Bilderfindungen sowie einer absolut überzeugenden Fehlbesetzung der Hauptrolle (wie aus dem Ei gepellt: Tony Randall) stellt Frank Tashlin seine absurd-vergnügliche, cool-klamaukige Kriminalfarce in die Tradition der 1960er Miss-Marple-Adaptionen (insbesondere hörbar gemacht durch den Komponisten Ron Goodwin) und geht zugleich einen Schritt über die altjüngferlichen Verbrecherjagden hinaus. Eine dysfunktionale Familie und ein großes Vermögen, atemberaubende Schlußfolgerungen des kombinatorischen Genies und polizeiliche Blindheit, ein Labyrinth falscher Spuren und ein Club voller Exzentriker – »The Alphabet Murders« ist verarschende Huldigung und respektvolle Dekonstruktion erzbritischer Whodunit-Stereotypen in einem filmischen Atemzug. Robert Morley als schnaufender Poirot-Sidekick Captain Hastings gibt der aparten Genrepersiflage den fetten Rest.

R Frank Tashlin B David Pursall, Jack Seddon V Agatha Christie K Desmond Dickinson M Ron Goodwin A William C. Andrews S John Victor-Smith P Lawrence P. Bachmann D Tony Randall, Anita Ekberg, Robert Morley, Maurice Denham, Guy Rolfe | UK | 90 min | 1:1,66 | sw | 1. August 1965

29.7.65

Help! (Richard Lester, 1965)

Hi-Hi-Hilfe!

»There's more here than meets the eye!« Gewidmet Elias Howe, dem Erfinder der Nähmaschine, surrt das zweite Beatles-Vehikel »Help!« wie ein surrealer Narrationsapparatismus durch jede Menge knallbunte Inhaltsfetzen und tackert den ganzen Wust zu einem wüsten Ganzen zusammen. Nukleus des Geschehens ist ein geheimnisvoller Ring, den Ringo (wer sonst?) an seinem Finger trägt, und hinter dem sowohl eine blutrünstige indische Sekte als auch ein Wissenschaftler mit Weltmachtambitionen her sind – Wilkie Collins meets James Bond. Richard Lester sowie den Autoren Charles Wood und Marc Behm gelingt es durch die konsequente Mißachtung der drei aristotelischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung nicht nur, sieben Beatles-Songs in den launenhaft-mäandrierenden Hergang des Films einzufügen, sie kreieren mit ihrer pointierten »And-now-for-something-completly-different«-Logik (und unter Einsatz des intelligenten Blödeltalents der Fab Four) zudem eine Art Monthy-Python-Bewußtseinsstrom avant la lettre.

R Richard Lester B Marc Behm, Charles Wood K David Watkin M The Beatles A Ray Simm S John Victor-Smith P Walter Shenson D John Lennon, Paul McCartney George Harrison, Ringo Starr, Eleanor Bron | UK | 90 min | 1:1,85 | f | 29. Juli 1965

4.7.65

Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht (Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, 1965)

Fünfzig Jahre deutsche Geschichte, dargestellt am Beispiel von drei Generationen einer gutbürgerlichen Kölner Familie, umspannt dieser kurze Film, der auf Heinrich Bölls Roman »Billard um halb zehn« basiert. Ohne erläuternde Inhaltsübersicht ist der aufs Äußerste kondensierten, in harten zeitlichen Sprüngen erzählten Handlung allerdings kaum zu folgen: Vor dem Ersten Weltkrieg errichtete Architekt Heinrich Fähmel eine Abtei, im Zweiten Weltkrieg wurde sie von seinem Sohn Robert aus militärischen Gründen gesprengt, Enkel Joseph beteiligt sich zur Zeit des Wirtschaftswunders an der Rekonstruktion des Baus; entlang dieses roten Fadens (oder auch: Teufelskreises) von Aufbau, Zerstörung und Wiederaufbau berichtet »Nicht versöhnt« von Repression und Widerstand, von der Geduld der Lämmer und der Gewalt der Büffel, vom Überdauern und Fortwirken der Vergangenheit. Das forcierte Laienspiel und die betont kunstlose Inszenierung, eine karge Ausstattung und verständnishemmende Ellipsen kennzeichnen das sperrige Werk, dessen atmosphärische Dissonanzen jede Form von Einfühlung strikt unterbinden – cinema povera und kommunikatives Unvermögen, aufklärerischer Minimalismus und blasiertes Dilettantentum liegen hier dicht beieinander. Es sind in erster Linie die Amateurdarsteller, die – indem sie ohne jeden Kunstwillen ihre Texte aufsagen – den spröden Charme des Filmes ausmachen: Der betagte Heinrich Hargesheimer klingt wie Konrad Adenauer und transportiert kongenial den Sound der jungen, uralten Bundesrepublik; Martha Ständner bezaubert als unwürdige Greisin, die, bevor sie einen reinigenden Schuß abfeuert, ihrem Mann verkündet: »Ich verlasse mich auf den Paragraphen 51, Liebster.«

R Jean-Marie Straub, Danièle Huillet B Jean-Marie Straub, Danièle Huillet V Heinrich Böll K Wendelin Sachtler M Béla Bartók, Johann Sebastian Bach S Jean-Marie Straub, Danièle Huillet P Jean-Marie Straub, Danièle Huillet D Henning Harmssen, Heinrich Hargesheimer, Chargesheimer (= Carl-Heinz Hargesheimer), Martha Ständner, Ulrich von Thüna | BRD | 55 min | 1:1,37 | sw | 4. Juli 1965

# 861 | 10. Mai 2014

2.7.65

Furia à Bahia pour OSS 117 (André Hunebelle, 1965)

OSS 117 – Pulverfaß Bahia

»Un révolutionnaire n’a pas d’amis.« – OSS 117 (diesmal gespielt von Frederick Stafford, der aussieht wie eine Mischung aus Quelle-Katalog-Unterwäsche-Model und Lord-Extra-Werbeillustration) ist unterwegs, um eine Kette von spektakulär-rätselhaften Selbstmordattentaten aufzuklären. Die Spur führt nach Rio und weiter in den brasilianischen Urwald, wo eine Organisation unter Führung eines ehrgeizigen Uniformträgers namens Carlos (!) (François Maistre) die gewaltsame Vereinigung des südamerikanischen Halbkontinents betreibt. André Hunebelle feiert in »Furia à Bahia« straff und recht kurzweilig (aber leider ohne jeden Anflug von Wahnwitz) die Schauwerte ab, Michel Magne schwingt die Samba-Rasseln, und Mylène Demongeot darf dazu blond und gut aussehen.

R André Hunebelle B Pierre Foucaud, Jean Hallain, André Hunebelle V Jean Bruce K Marcel Grignon M Michel Magne A Paul-Louis Boutié S Jean Feyte P Paul Cadéac, Luciano Ercoli, Alberto Pugliese D Frederick Stafford, Mylène Demongeot, Raymond Pellegrin, Perette Pradier, François Maistre | F & I | 99 min | 1:2,35 | f | 2. Juli 1965

1.7.65

The Great Race (Blake Edwards, 1965)

Das große Rennen rund um die Welt

Eine Ouvertüre! (Wie vor einem Monumentalfilm.) Dann die Widmung: »To Mr. Laurel and Mr. Hardy«. Was folgt, ist, wie nach diesem Auftakt zu erwarten, der Versuch eines endgültigen Lustspiels, ein überdimensionales Slapstick-Epos, vergleichbar vielleicht nur mit Stanley Kramers ebenfalls völlig aus den gestalterischen Fugen geratener Superklamotte »It’s a Mad, Mad, Mad, Mad World«: ein Belle-Époque-Wagenrennen – (fast) rund um den Globus – von New York nach Paris, ein perlweiß funkelnder Siegertyp (›The Great Leslie‹: Tony Curtis), ein Antagonist, so schwarz wie die Bombe eines Anarchisten (›Professor Fate‹: Jack Lemmon), dazu ergebene Helfer (Keenan Wynn und Peter Falk) sowie eine selbstbewußte Suffragette (›Maggie Du Bois‹: Natalie Wood), die das Primat der männlichen Helden(-figuren) mit allen ihr zu Gebote stehenden körperlichen und intellektuellen Reizen in Frage stellt. Stummfilmfan und Kontrollfreak Blake Edwards schafft mit seinem besessen-minutiösen Nach- und Durchdeklinieren populärer Leinwandstandards – heulenden Indianer-Attacken und klirrenden Mantel-&-Degen-Duellen, romantischen Komplikationen und schwelgerischen Zerstörungsorgien, einer titanischen Saloonschlägerei und einer Tortenschlacht (natürlich handelt es sich nicht um »eine« Tortenschlacht, sondern um »the pie fight of the century«) – eine exaltiert-exorbitante roadshow, das Komödienäquivalent zu den hypertrophen Musicals der Epoche. Daß die Komik, trotz konsequent cartoonhafter Charakterzeichnung und kompromißlos überzeichneter Situationen, hin und wieder auf der (langen) Strecke bleibt, liegt wohl in der Natur der (aufgeblasenen) Sache: Subversion und Gigantismus gehen selten Hand in Hand. PS: »Push the button, Max!«

R Blake Edwards B Arthur A. Ross, Blake Edwards K Russell Harlan M Henry Mancini A Fernando Carrere S Ralph E. Winters P Martin Jurow D Jack Lemmon, Tony Curtis, Natalie Wood, Peter Falk, Keenan Wynn | USA | 160 min | 1:2,35 | f | 1. Juli 1965

11.6.65

Repulsion (Roman Polanski, 1965)

Ekel

»Have you fallen asleep?« Die Welt aus der Sicht von Carole Ledoux. Roman Polanskis erste Arbeit im Westen: ein intimes Horrorszenario, die Fallstudie einer paranoiden Schizophrenie, eine Zimmerreise in den Wahnsinn. Zunächst wirkt die engelhafte junge Belgierin (somnambul: Catherine Deneuve), die zusammen mit ihrer Schwester in London lebt und als Maniküre in einem Schönheitssalon arbeitet, auf ihre Umgebung lediglich verträumt und abwesend, später zeigt sie sich ernsthaft verstört, am Ende ist sie gänzlich umnachtet; erscheint Caroles instinktiver Widerwille gegen (männliche) Zudringlichkeit anfangs noch nachvollziehbar, erweist sich ihre zunehmende Kommunikationsverweigerung bald schon als Symptom einer ernsthaften geistigen Erkrankung. Während der erste Teil des Films eher der klinischen Untersuchung einer Entfremdung gleicht, verschiebt Polanski in der zweiten Hälfte die Perspektive: Caroles subjektive Wahrnehmung – vorbeihuschende Silhouetten im Spiegel, Räume, die sich unvermittelt weiten, jäh aufspringende Risse im Putz, Hände, die aus Wänden greifen, Überfälle eines imaginären Vergewaltigers – beherrscht die Narration. Dem fortschreitenden inneren Zerfall der Protagonistin entspricht die äußere Verwahrlosung der Wohnung, in der sie sich (während die Schwester Urlaub in Italien macht) vollständig isoliert; zwischen einem verwesenden Kaninchen und keimenden Kartoffeln findet die panische Abwehr von (männlicher) Berührung schließlich ihren radikalen Ausdruck.

R Roman Polanski B Roman Polanski, Gérard Brach K Gilbert Taylor M Chico Hamilton A Seamus Flannery S Alastair McIntyre P Gene Gutowski D Catherine Deneuve, John Fraser, Yvonne Furneaux, Ian Hendry, Patrick Wymark | UK | 105 min | 1:1,66 | sw | 11. Juni 1965

# 1018 | 18. August 2016

4.6.65

Neues vom Hexer (Alfred Vohrer, 1965)

Mit einiger Chuzpe hängt sich die Fortsetzung ans Original. Die Figur des ›Hexers‹ und ihre Abrechnungsmission tun bei Lichte besehen überhaupt nichts zur Sache. Der Rächer wird lediglich von einem Meuchelmörder ins Spiel gebracht, um die Ermittler auf den Holzweg zu locken. Der solchermaßen Mißbrauchte sieht sich genötigt, höchstselbst (das heißt: mannigfaltig maskiert) in die polizeiliche Untersuchung einzugreifen, um seine Person von falschem Verdacht reinzuwaschen. Die eigentliche Fabel kreist, wie fast immer bei Edgar Wallace, um ein stattliches Erbe, in dessen freudiger Erwartung peu à peu eine desolate Familie ausgelöscht wird: Der Dämon des Geldes frißt seine gierigen Kinder … Nach dem recht trockenen Vorgänger nutzt Alfred Vohrer die quatschige Intrige diesmal, um Inhalts- und Formschablonen spöttisch als solche kenntlich zu machen: So darf beispielsweise Klaus Kinski (als sinistrer Butler der hochwohlgeborenen Bagage) gleich zu Beginn des Films in einem Sarg probeschlafen und später wiederholt für Unbehagen sorgen, indem er die ätherische Harfe zupft. Die Auflösung des Falles wird schließlich an gebührend langen Haaren aus der dunklen Vergangenheit der verdammten Sippschaft herbeigezogen.

R Alfred Vohrer B Herbert Reinecker V Edgar Wallace K Karl Löb M Peter Thomas A Walter Kutz, Wilhelm Vorweg S Jutta Hering P Horst Wendlandt D Heinz Drache, Barbara Rütting, Brigitte Horney, Klaus Kinski, Siegfried Schürenberg | BRD | 95 min | 1:1,66 | sw | 4. Juni 1965

3.6.65

Ten Little Indians (George Pollock, 1965)

Geheimnis im blauen Schloß

Delinquenten, die sich dem Lauf Gerechtigkeit entziehen konnten, doch noch einer angemessenen Strafe zuzuführen, ist das Programm eines (bis kurz vor Schluß des Spiels unerkannt bleibenden) Richters, der zehn sündhafte Personen auf ein abgelegenes Alpenschloß lädt, um sie dortselbst definitiv abzuurteilen … Nach seinen vier Miss-Marple-Krimis legt George Pollock mit »Ten Little Indians« eine weitere Agatha-Christie-Adaption vor, die ohne zentrale Ermittlerfigur auskommen muß, aber einen ansehnlichen Cast zur tödlichen house party versammelt: Daliah Lavy als hochnäsiger Filmstar, Wilfrid Hyde-White als distinguierter Jurist, Dennis Price als versoffener Arzt, Stanley Holloway als nicht allzu heller Privatdetektiv, Mario Adorf und Marianne Hoppe als fragwürdige Hausbesorger, Shirley Eaton (im Jahr zuvor von Gert Fröbe vergoldet) als taff tuende Sekretärin. Mit fortschreitender Dezimierung steigt unter der schwindenden Zahl der Lebenden der Pegel von Angst und Argwohn: Jeder verdächtigt jeden. Das Ende dieser leidlich makabren Whodunit-Phantasie über Schuld und Sühne folgt bedauerlicherweise nicht Christies konsequentem Roman sondern ihrer weichgespülten Bühnenfassung.

R George Pollock B Peter Yeldham, Harry Alan Towers V Agatha Christie K Ernest Steward M Malcolm Lockyer A Frank White S Peter Boita P Harry Alan Towers D Hugh O’Brian, Shirley Eaton, Stanley Holloway, Daliah Lavy, Wilfrid Hyde-White | UK | 91 min | 1:1,85 | sw | 3. Juni 1965

The Knack … and How to Get It (Richard Lester, 1965)

Der gewisse Kniff

»I never thought I'd see so much purity of pattern. Absolute rightness.« Richard Lesters spielerische Komödie über Leben und Liebe in den Zeiten des Abschieds von gestern: Ein geiler Klemmi (Michael Crawford), ein aufgeblasener Don Juan, ein Typ, der alles weiß (!) streicht, und ein aufgeschlossenes Mädchen aus der Provinz (Rita Tushingham) treffen, streiten, mißtrauen, mögen, suchen, finden sich im beschwingten London der ewig-jungen Mittsechziger. Auch wenn das Quartett mehr redet als tut, sieht der Chor der Väter und Mütter die alten Felle davonschwimmen und verteufelt das Neuhergebrachte als Attentat auf gute Sitten und Anstand. »Rape!« – »Not today. Thank you.« David Watkins neugierig-empfindsame Kamera, John Barrys heiter-perlender Score, Antony Gibbs’ sprunghaft-assoziativer Schnitt machen »The Knack … and How to Get It« zum Augen- und Ohrenzeugen ohne Urteil, zur Pop-Offenbarung ohne Botschaft, zum missing link zwischen nouvelle vague und video clips. »I must please you, and I think I can.«

R Richard Lester B Charles Wood V Ann Jellicoe K David Watkin M John Barry A Assheton Gorton S Anthony Gibbs P Oscar Lewenstein D Rita Tushingham, Michael Crawford, Ray Brooks, Donal Donnelly, William Dexter | UK | 85 min | 1:1,66 | sw | 3. Juni 1965

27.5.65

Die Geißel des Fleisches (Eddy Saller, 1965)

»Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.« Manchmal auch hinab – wie etwa den armen Barpianisten Alexander Jablonsky (von Furien gehetzt: Herbert Fux): als Knabe von der Mutter verachtet und von den Mädchen ver­lacht, kann er später nicht anders, als Frauen zu erdrosseln, neckische Wesen, die bei jeder Gelegenheit Knie, Oberschenkel, Bäuche, Busen, Hintern herzeigen, um sich im entscheidenden Moment wieder zu entziehen. Eine Zeitlang vermag Jablonsky, seinen Trieb bildkünstlerisch zu sublimieren (Stichwort: Beile in Brüsten), aber schließlich platzt ihm angesichts des allgegenwärtigen erotischen Overkills der Kragen. (»Ein gewagtes Thema!«) Eddy Saller verwandelt die Schilderung des Falles in eine pseudokumentarisch-küchenpsychologische Achterbahnfahrt durch die Geheimnisse einer Seele im nächtlichen Wien der 1960er Jahre: eine schiache Lust für den empfänglichen Voyeur.

R Eddy Saller B Eddy Saller K Edgar Osterberger M Gerhard Heinz A Rudolf Höfling S Helga Zeiner P Herbert Heidmann D Herbert Fux, Hermann Laforet, Hanns Obonya, Edith Leyrer, Ingrid Malinka | A | 78 min | 1:1,37 | sw | 27. Mai 1965

6.5.65

Schüsse aus dem Geigenkasten (Fritz Umgelter, 1965)

Hier wird zunächst einmal, wie es sich für einen Heftchenfilm gehört, ein frohes Fest der Pulp-Namen gefeiert: Die Bösen heißen Christallo, Percy, Babe und Sniff, ihr Hintermann firmiert als Doktor Kilborne (≈ der geborene Killer), das Flittchen ist eine gewisse Kitty Springfield, der Chef der Guten nennt sich (ganz ohne Doppelbödigkeit) Mr. High. G-Man Jerry Cotton, der Heftchenheld (verkörpert von der gereiften Beefcake-Schönheit George Nader), jagt zu den Klängen eines flotten Party-Marschs eine Bande, die sich mit einiger Kaltschnäuzigkeit die hinterzogenen Steuergelder eines Musikproduzenten, den Goldschatz eines Eisenbahnräubers und den geheimen Hort eines exzentrischen Sammlers aneignet. Schauplatz der knallharten Auseinandersetzung, deren Ausgang so feststeht wie die Brisk-Frisur des bundesdeutschen FBI-Agenten, ist ein synthetisches Rückpro- und Stock-footage-New York, das hin und wieder (und nicht ohne Grund) verdächtig an Hamburg erinnert. Der harmlose Quatsch dauert neunzig, von Fritz ›So weit die Füße tragen‹ Umgelter mit fernsehhafter Routine inszenierte Heftchenminuten.

R Fritz Umgelter B Georg Hurdalek K Albert Benitz M Peter Thomas A Mathias Matthies, Ellen Schmidt S Klaus Dudenhöfer P Gyula Trebitsch, Heinz Willeg D George Nader, Heinz Weiss, Richard Münch, Hemlut Förnbacher, Hans E. Schons | BRD & F | 90 min | 1:1,66 | sw | 6. Mai 1965

# 972 | 3. Oktober 2015

5.5.65

Thomas l’imposteur (Georges Franju, 1965)

Thomas, der Schwindler

»Cette guerre comença dans le plus grand désordre.« Schuf er in seiner Louis-Feuillade-Hommage »Judex« eine Phantasmagorie der »nicht glücklichen« Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, wendet sich Georges Franju mit der Adaption eines Romans von Jean Cocteau dem großen Völkerschlachten selbst zu. Protagonisten der Erzählung sind die princesse de Bormes (Emmanuelle Riva), »une amoureuse folle des modes«, glänzender Mittelpunkt der Pariser Gesellschaft, die auf eigene Verantwortung Verwundetentransporte von der Front organisiert, und der halbwüchsige Thomas (Fabrice Rouleau), dem sich als vermeintlichem Neffen eines berühmten Generals alle Türen öffnen, wodurch er die Mission der extravaganten Aristokratin hilfreich unterstützen kann. Die Prinzessin und Thomas gehen in den Krieg wie in ein Theaterstück, sie auf der Suche nach Zerstreuung und Abenteuer, er weil er Spiel und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten kann (oder will). Franju, selbst ein schwarzer Romantiker, hält den Film kunstvoll in der Schwebe zwischen Imagination und Realität, zeigt das Kriegsgeschehen bald als grausames Wirken totaler Zerstörungskräfte, bald als absurden Rummel, bald als dunkles Märchen mit brennenden Pferden und malerischen Ruinen. Die klangvolle Stimme von Jean Marais begleitet den jugendlichen Titelhelden bis an den Ort seiner Bestimmung, die Dünen der belgischen Küste: »Der Friedhof der Seeleute in Nieuport gleicht einem abgetriebenen Segelschiff. Ein tiefer Schlaf hält die Mannschaft umfangen.«

R Georges Franju B Jean Cocteau, Michel Worms, Georges Franju, Raphael Cluzel V Jean Cocteau K Marcel Fradetal M Georges Auric A Claude Pignot S Gilbert Natot P Eugène Lépicier D Emmanuelle Riva, Fabrice Rouleau, Jean Servais, Sophie Darès, Rosy Varte, Jean Marais | F | 94 min | 1:1,66 | sw | 5. Mai 1965

# 11117 | 29. Mai 2018

21.4.65

Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution (Jean-Luc Godard, 1965)

Lemmy Caution gegen Alpha 60

»Il était 24:17, heure océanique, quand j'arrivais dans les faubourgs d' Alphaville …« Fürwahr ein seltsames Abenteuer, diese grobkörnig-schwarzweiße Kreuzung aus science poetry und love fiction: Lemmy Caution (legendär: Eddie Constantine), Agent der pays extérieurs, kommt, getarnt als Journalist der ›Figaro-Pravda‹ nach Alphaville – eine Stadt (= eine Welt) ohne Zeit (= ohne Vergangenheit und Zukunft) und ohne Emotionen (= ohne Liebe), die beherrscht wird von einem elektronischen Superhirn (das aussieht wie eine Glühlampe hinter einem Ventilator) –, um an diesem seelenlosen Ort, der kein ›Warum‹ kennt sondern nur ein ›Weil‹, einen verschollenen Wissenschaftler aufzuspüren. Der abgängige Professor von Braun (alias Leonard Nosferatu) wird wiedergefunden – und entpuppt sich als master mind (= Erfinder und Programmierer) des gefühlskalt-mörderischen Großrechners ›Alpha 60‹. Jean-Luc Godard entwickelt seine Dystopie unter völligem Verzicht auf special effects und futuristische Dekors, er und Kameramann Raoul Coutard siedeln die kalte Vision einer von Rationalität und Kontrolle terrorisierten Gesellschaft (einfach genial – genial einfach) in der Pariser Gegenwart an: in den Glaspalästen von La Défense und den Schaltzentralen von Kraftwerken, in einem labyrinthischen Hotel und einem Schwimmbad, das zum Hinrichtungstempel wird. Paul Misraki taucht die intergalaktische Reise ans Ende der Nacht in ein schroff-romantisches Wechselbad der musikalischen Gefühle. Lemmy mischt Alphaville (die »capitale de la douleur«) gründlich auf, indem er 1. en passant so manchen Schergen der technischen Großmacht abknallt, 2. Poesie (= irrationale Sentenzen) ins Spiel bringt, die omnipotente Maschine auf diese Art und Weise in Verwirrung (und ins Verderben) stürzt und 3. eine Frau (na klar, es gibt auch eine Frau in einem Caution-Abenteuer: Anna Karina – großäugig und ponyfransig, zerbrechlich und verführerisch) stellvertretend für alle emotional Versteinerten zu lieben lehrt: »De loin en loin, dit la haine. De proche en proche, dit l'amour.«

R Jean-Luc Godard B Jean-Luc Godard K Raoul Coutard M Paul Misraki S Agnès Guillemot P André Michelin D Eddie Constantine, Anna Karina, Akim Tamiroff, László Szabó, Howard Vernon | F & I | 99 min | 1:1,37 | sw | 21. April 1965

24.3.65

Le corniaud (Gérard Oury, 1965)

Scharfe Sachen für Monsieur | Louis, das Schlitzohr

»Wenn einer eine Reise tut, / dann kann er was erzählen. / Drum nähme ich den Stock und Hut / und tät das Reisen wählen.« Antoine Maréchal, ein argloser Pariser Kleinbürger (Bourvil), nimmt den weißen Cadillac DeVille, der ihm (nicht ganz uneigennützig) vom halbseidenen »Unternehmer« Léopold Saroyan (Louis de Funès) zur Verfügung gestellt wird, und reist von Neapel nach Bordeaux. Unterwegs passiert allerlei Erzählenswertes, das insbesondere mit der versteckten Fracht zu tun hat, die Maréchal nichtsahnend in Saroyans Luxuskarosse transportiert: Heroin (in den Kotflügeln), Gold (in den Stoßstangen), Edelsteine (in der Batterie) und: den größten Diamanten der Welt (tja, wo eigentlich?) … Gérard Oury mixt Gangster-Klamotte mit Poisson-hors-de-l’eau-Komödie und postkartenidyllischen Italien-Impressionen (römisches Dolce Vita, sizilianische Eifersucht, Wasserspiele und Faustkämpfe in der Villa d’Este, Camping und Freikörperkultur am Tyrrhenischen Meer) zu einem ferienvergnüglichen Roadmovie, in dem – anders als im richtigen Leben – die bodenlose Ehrlichkeit des herzensguten Blödmanns über die gemeine Hinterlist des berechnenden Schlitzohrs siegt.

R Gérard Oury B Gérard Oury, Marcel Jullian, Georges Tabet, André Tabet K Henri Decaë M Georges Delerue A Francesco Ciarletta, Robert Giordani S Albert Jurgenson P Robert Dorfmann D Bourvil, Louis de Funès, Venantino Venantini, Beba Loncar, Alida Chelli | F & I | 111 min | 1:2,35 | f | 24. März 1965

18.3.65

The Ipcress File (Sidney J. Furie, 1965)

Ipcress – Streng geheim

Der Anti-Star als Anti-Bond: Beherrschte Stimme, sparsame Mimik, ökonomische Körpersprache kennzeichnen Michael Caines Interpretation des coolen Intelligence-Agenten Harry Palmer. Dessen erster Fall, »The Ipcress File«, der sich um die organisierte Entführung von Wissenschaftlern, gewerbsmäßige Gehirnwäsche und eine innergeheimdienstliche Intrige dreht, ist eine eigenwillige Mischung aus spröder New-Wave-Tristesse und überspitztem »Avengers«-Surrealismus. Sidney J. Furies Film besticht durch einen zart prickelnden John-Barry-Score sowie durch extravagante Bildkompositionen: Otto Hellers verkantete Kamera linst immer wieder an optischen Barrieren vorbei, späht durch Schlitze, lauert hinter Gittern, Mauern, Fenstern auf entscheidende Augenblicke; der Anti-Held (wie sein Darsteller ein waschechter Cockney) wird dabei häufig in low-angle shots fotografiert – was ihm gleichwohl nichts Heroisch-Überragendes verleiht, da er fortdauernd von den tiefhängenden Decken trostloser Szenerien (Bauten: Ken Adam) in seine undankbare Rolle gezwängt erscheint. Am Ende bringt dann ironischerweise Palmers angeborener Hang zu Renitenz und Insubordination die schmuddlige Angelegenheit wieder ins Reine.

R Sidney J. Furie B Bill Canaway, James Doran V Len Deighton K Otto Heller M John Barry A Ken Adam S Peter Hunt P Harry Saltzman D Michael Caine, Nigel Green, Guy Doleman, Sue Lloyd, Gordon Jackson | UK | 109 min | 1:2,35 | f | 18. März 1965

3.3.65

Il momento de la verità (Francesco Rosi, 1965)

Der Augenblick der Wahrheit

Spanien. Sonne. Staub. Stiere. Stierkämpfer. Miguelin, ein armer Kerl aus dem provinziellen Irgendwo sieht in der Arena die einzige Chance, seinem Herkommen und der darin eingeschriebenen Zukunft zu entrinnen. Nicht ohne Talent aber letztlich ohne Berufung, geht er in die Stierkampfschule, wird »entdeckt«, von einem Agenten groß gemacht. Der Erfolg und seine Früchte – Cabriolets, Partys, amerikanische Geliebte – stellen sich bald ein, während die Lust auf den nächsten Kampf nach und nach schwindet. Aber die Show muß weitergehen – bis zum Augenblick der Wahrheit, da die Hörner eines Stieres Miguelins »Karriere« tödlich beenden. Die dokumentarische Empathie von Franceso Rosi (Regie) und der poetische Naturalismus von Gianni Di Venanzo (Kamera) stellen – ohne Wertungen, ohne Urteil – die Härten der nackten (und blutigen) Wirklichkeit gegen die Illusionen vom besseren Leben und ergründen zugleich – am Beispiel der Corrida – das Verhältnis von Kultus und Kultur. Eine höchst sinn­liche Geschichte der Grausamkeit unter blankem südlichen Himmel.

R Francesco Rosi B Francesco Rosi, Pedro Beltrán, Ricardo Muñoz Suay, Pere Portabella K Gianni Di Venanzo, Pasqualino De Santis M Piero Piccioni A Francesco Rosi, Mario Serandrei S Mario Serandrei P Antonio Cervi, Francesco Rosi D Miguel Mateo ›Miguelín‹, José Gómez Sevillano, Pedro Basauri ›Pedrucho‹, Linda Christian | I & E | 110 min | 1:2,35 | f | 3. März 1965

2.3.65

The Sound of Music (Robert Wise, 1965)

Meine Lieder, meine Träume

Als hätte Robert Wise viel zu viele Heimat- und Schlagerfilme gesehen, fliegt das Auge der Kamera (in Todd-AO!) erst einmal über jede Menge idyllischer Alpentäler, -seen und -wiesen, um sodann eine wie besoffen mit sich selbst tanzende Julie Christie ins Visier zu nehmen, die mit ausgebreiteten Armen »The hills fill my heart with the sound of music!« schmettert. Wise erreicht die luftigen Höhen dieser konsequent ausgespielten Peinlichkeit mühelos immer wieder, und spätestens wenn Christopher Plummer alias Baron von Trapp alias Bill Lee (Stimme) beklampft und bejankert im Kreise seiner Kinderschar »Edelweiß, Edelweiß, bless my homeland forever« zum Besten gibt, kann man die künst­lerische Entschiedenheit dieser einmaligen Huldigung Hollywoods an Kultur und Werte des alten Europa nur noch mit offenem Mund bestaunen. Die Breitwand-Adaption von Rogers’ und Hammersteins monumental-verschmockter Salzburger Familienoperette mit singenden Nonnen, musikalischen Priestern und schnarrenden Nazis bereitet dem masochistischen Connaisseur – schon we­gen ihrer gefühlten Endlosigkeit – ein ähnliches Vergnügen wie eine ganz, ganz langsame Steinigung mit Mozartkugeln.

R Robert Wise B Ernest Lehman V Maria Augusta Trapp, Howard Lindsay, Russel Crouse K Ted McCord M Richard Rogers A Boris Leven S William Reynolds P Robert Wise D Julie Andrews, Christopher Plummer, Eleanor Parker, Richard Haydn, Peggy Wood | USA | 174 min | 1:2,35 | f | 2. März 1965

28.2.65

Shunpu den (Seijun Suzuki, 1965)

Nackt und verdammt 

Hochexplosives Melodram, situiert in einem staubigen Drecknest an der Front des japanisch-chinesischen Krieges: Harumi, kämpferisch-selbstbewußte Prostituierte in einem Soldatenbordell, muß dem einnehmend-brutalen Offizier Narita zu Willen sein und verliebt sich in dessen servil-handzahmen Burschen Mikami. Als ihr Angebeteter in die Gefangenschaft des Gegners gerät, eröffnet ihm (und damit letztlich auch ihr) der strikte militärische Ehrenkodex nur einen einzigen – tödlichen – Ausweg… Seijun Suzuki läßt die Leidenschaften in seiner bühnenhaft formalisierten Tragödie auf höchster Flamme sprudelnd überkochen – und verliert im Eifer des Gefühlsgefechts auch noch ein paar kritische Worte über die fragwürdige Banzai-Mentalität der kaiserlichen Armee, in der Sterben als Feigheit vor einem Feind erscheint, der Leben heißt.

R Seijun Suzuki B Hajime Takaiwa V Taijiro Tamura K Kazue Nagatsuka M Naozumi Yamamoto A Takeo Kimura S Akira Suzuki P Kaneo Iwai D Yumiko Nogawa, Tamio Kawaji, Isao Tamagawa, Shoichi Ozawa, Tomiko Ishikawa | JP | 96 min | 1:2,35 | sw | 28. Februar 1965

15.2.65

Lord Jim (Richard Brooks, 1965)

Lord Jim

»Maybe cowards and heroes are just ordinary men who, for a split second, do something out of the ordinary. That’s all.« Eher breites als großes Abenteuerkino nach Joseph Conrad, das vom offenen Meer in den realen und in den inneren Dschungel führt. Die Erzählung dreht sich um Versagen und Mut, um Ehre und Stolz, um die Hoffnung auf die zweite Chance. Peter O’Toole in der zwiespältigen Titelrolle des Seemannes, dem aufgrund einer Übersprungshandlung das Patent entzogen wird, vergißt auch in dramatischen Situationen nicht, Eyeliner aufzutragen, und bebt ansonsten allzu sichtbar vor moralischer Anspannung. Richard Brooks’ Regie ist stellenweise überraschend ungeschickt, während der wagnerianische Score von Bronislau Kaper mit seinem Schicksalsrauschen nicht nur die Protagonisten an ihre Grenzen treibt. Getragen wird »Lord Jim« allein von seinen prachtvollen Schurken: Eli Wallach als brutaler Ausbeuter, Curd Jürgens als versoffener Raffzahn, Akim Tamiroff als schwitzender Hehler des Todes, James Mason als bibelfester Auftragsmörder, der die Problematik der tragischen Hauptfigur wie folgt erklärt: »His Lordship has pretensions to heroism – a form of mental disease induced by vanity.«

R Richard Brooks B Richard Brooks V Joseph Conrad K Freddie Young M Bronislau Kaper A Geoffrey Drake S Alan Osbiston P Richard Brooks D Peter O’Toole, Eli Wallach, Curd Jürgens, Akim Tamiroff, James Mason | UK & USA | 154 min | 1:2,20 | f | 15. Februar 1965

9.2.65

Rekopis znaleziony w Saragossie (Wojciech Has, 1965)

Die Handschrift von Saragossa

Dieser Film mag dem Betrachter spanisch vorkommen, aber er ist so polnisch wie die Sierra Morena: Konstruiert nach dem Prinzip der Puppe in der Puppe, tut sich in jeder Episode von »Rekopis znaleziony w Saragossie« – das titelgebende Manuskript folgt der verschlungenen Spur des Hauptmanns der wallonischen Garde Alfons van Worden (viril-naiv: Zbigniew Cybulski) durch ein karstig-geheimnisvolles Phantasie-Spanien des 18. Jahrhunderts – ein weiteres Abenteuer auf, darin das nächste, und so weiter – bis die Inquisition kommt oder ein Zigeunerkönig oder ein verlotterter Aristokrat, der zwar keinen Real in der Tasche hat, aber stets eine Anekdote auf den Lippen ... Bevölkert wird das Geschichtenlabyrinth außerdem von lebendigen Gehenkten und unersättlichen Duellisten, von lüsternen Schwestern und Muselmanen im Untergrund. Wojciech Has, dem Regisseur dieses tollkühn-romantischen Kaleidoskops, liegt, wie dem Autor der Romanvorlage, Jan (Graf) Potocki, weniger an der Erzählung als am Erzählen selbst: am Fabulieren, Spintisieren und Abschweifen, am Verschieben von Perspektiven, am Springen von Gedanken und am Auflösen von Grenzen – zwischen Realität und Traum, Erkenntnis und Spekulation, geschlossenen Räumen und Unendlichkeit, Gotteswerk und Teufelskunst. »Wir sind wie Blinde, verloren in den Straßen einer großen Stadt«, heißt es einmal – und es ist eine wahre Lust (= ein traumhafter Schrecken), sich in diesem Irrgarten (= in der Welt) zu verlieren.

R Wojciech Has B Tadeusz Kwiatkowski V Jan Potocki K Mieczysław Jahoda M Krzysztof Penderecki A Tadeusz Myszorek, Jerzy Skarzynski S Krystyna Komosinska P Ryszard Straszewski D Zbigniew Cybulski, Kazimierz Opaliński, Iga Cembrzyńska, Joanna Jedryka, Leon Niemczyk | PL | 182 min | 1:2,35 | sw | 9. Februar 1965