11.1.60

Les yeux sans visage (Georges Franju, 1960)

Augen ohne Gesicht

Was geschieht, wenn die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter und die Besessenheit eines Wissenschaftlers für sein Fachgebiet Hand in Hand gehen? – Wenn die Tochter einen Unfall hatte, bei dem sie ihres engelhaften Gesichtes verlustig ging, und das Fachgebiet des Vaters die Transplantationsmedizin ist, kann es beispielsweise passieren, daß unschuldige junge Frauen verschleppt und im Keller einer einsam gelegenen Klinik zu Tode operiert werden, um eine verlorene Schönheit wiederherzustellen. So in »Les yeux sans visage«, mit dem Georges Franju den Surrealisten und den Pionieren des expressionistischen Kinos seine Reverenz erweist. Pierre Brasseur spielt den Chirurgen mit der Anmaßung eines großen Staatsmannes, seine Assistentin Alida Valli dient ihm mit maligner Bewunderung, und die arme Edith Scob, die Tochter, der nichts als Augen blieben, die Schreckliches sehen müssen, findet die ersehnte Ruhe erst, als sie die Hunde losläßt ... Dies dargeboten zu einem drehorgelig-moritatenhaften Score von Maurice Jarre und in Eugen Schüfftans Bildern, die die Klarheit des Wahnsinns atmen. Was diesen zarten, langsamen Horrorfilm so intensiv macht, ist, daß alles gleichermaßen normal und schrecklich erscheint: die Hingabe und die Hoffnung, die Schuld und die Verzweiflung, der Ehrgeiz und die Hybris.

R Georges Franju B Pierre Boileau, Thomas Narcejac, Claude Sautet, Jean Redon, Pierre Gascar V Jean Redon K Eugen Schüfftan M Maurice Jarre A Auguste Capelier S Gilbert Natot P Jules Borkon D Pierre Brasseur, Alida Valli, Edith Scob, Juliette Mayniel, François Guérin | F & I | 88 min | 1:1,66 | sw | 11. Januar 1960

6.1.60

Rocco e i suoi fratelli (Luchino Visconti, 1960)

Rocco und seine Brüder

Nach dem Tod ihres Mannes folgt Rosaria Parondi (Katina Paxinou) mit den Söhnen Simone, Rocco, Ciro und Luca ihrem Ältesten, Vincenzo, aus dem rückständigen Lukanien ins neonglänzende Mailand – wie Hunderttausende haben sie in der Hoffnung auf ein besseres Leben die Heimat verlassen, um zu Fremden im eigenen Land zu werden. In fünf Kapiteln, benannt nach den Sprößlingen der übermütterlichen Witwe, thematisiert Luchino Visconti die Gegensätze von Stadt und Land, Arm und Reich, Nord und Süd, Tradition und Moderne, und er erzählt, in einer Mischung aus gesellschaftskritischem Realismus und melodramatischer Opernhaftigkeit, vom Verfall einer Familie, von ihrer Entwurzelung und Entfremdung, von ihrer Entwürdigung und Entsolidarisierung im Goldenen Zeitalter des Nachkriegskapitalismus. Das Epizentrum der Ereignisse bildet die konfliktgeladene Beziehung zwischen dem unbeherrschten Simone (Renato Salvatore) und dem sanftmütigen Rocco (Alain Delon), die beide – mehr oder weniger ehrgeizig – ihr Glück im Boxring suchen, sowie der temperamentvollen Prostituierten Nadia (Annie Girardot), die im Spannungsfeld der verzweifelten Brutalität des einen und der bedingungslosen Güte des anderen Bruders jämmerlich zugrunde geht. So bleibt, mithin Vincenzo sich zum biederbraven Ehemann (unter dem schmucken Pantoffel von Claudia Cardinale) gewandelt hat, außer dem Duft von Orangen oder der Erinnerung an schattige Olivenhaine in tristen Sozialwohnungen und betonierten Höfen, nur die vage Aussicht auf eine glücklichere Zukunft für die beiden jüngsten Parondis: Ciro, der als Arbeiter in einer Automobilfabrik politisches Bewußtsein entwickelt, und Luca, der vielleicht eines Tages in eine veränderte Heimat zurückkehren mag.

R Luchino Visconti B Luchino Visconti, Suso Cecchi S’Amico, Pasquale Festa Campanile, Massimo Franciosa, Enrico Medioli K Giuseppe Rotunno M Nino Rota A Mario Garbuglia S Mario Serandrei P Goffredo Lombardo D Alain Delon, Renato Salvatori, Annie Girardot, Katina Paxinou, Claudia Cardinale | I & F | 177 min | 1:1,66 | sw | 6. Januar 1960

# 1161 | 21. Mai 2019

1.1.60

Heller in Pink Tights (George Cukor, 1960)

Die Dame und der Killer

Eine Schauspielertruppe schlägt sich – immer am Rand der Pleite, oft auf der überstürzten Flucht vor den Gläubigern – durch den Wilden Westen. Der eigensinnig-selbstbestimmte weibliche Star des Ensembles (: Sophia Loren – erblondet) steht zwischen zwei Männern: einem sympathisch-virilen hitman, der sie begehrt (: Steve Forrest), und dem sensibel-unentschlossenen Chef der company, den sie liebt (: Anthony Quinn). George Cukors (einziger) Western wechselt die Tonlagen so behende wie die Darstellerinnen ihre rauschenden Roben: von der Sittenkomödie zum Melodram zur Farce zur Romanze. Edith Heads exaltiertes Kostümbild und die aparte color coordination des Modefotografen George Hoyningen-Huene verleihen »Heller in Pink Tights« einen Hauch von ›Harper’s Bazaar‹, und wenn am Schluß des Films (nach reichlich Kitsch und einigen shoot-outs) die resolute Frau dem Mann ihrer Wahl mit dem Geld, das sie raffiniert ergaunert hat, »sein« Theater schenkt, lösen sich nicht nur alle Probleme sondern auch die klassischen Geschlechterrollen in verspieltes Wohlgefallen auf.

R George Cukor B Walter Bernstein, Dudley Nichols V Louis L’Amour K Harold Lipstein M Daniele Amfitheatrof A Gene Allen, Hal Pereira S Howard A. Smith P Marcello Girosi, Carlo Ponti D Sophia Loren, Anthony Quinn, Margaret O’Brien, Steve Forrest, Ramon Novarro | USA | 100 min | 1:1,85 | f | 1. Januar 1960