25.6.58

Screaming Mimi

Die blonde Venus

Ein psychopathischer Messerstecher attackiert eine Blondine, die im Begriff steht, eine Dusche zu nehmen. Anders als Alfred Hitchcock, der eine ähnliche Situation zwei Jahre später zum fulminant durchkomponierten Mittel- und Höhepunkt eines Horrorthrillers formen wird, knallt Gerd Oswald die Szene in brutaler Kürze an den Anfang seines nachtschwarzen Pulp-Reißers. Tänzerin Virginia Wilson (Anita Ekberg) überlebt den Anschlag äußerlich unverletzt (ihr Stiefbruder erschießt den Angreifer), doch verwirrt sich ihr Geist über das schreckliche Erlebnis. »Screaming Mimi« verknüpft die Geschichte der Traumatisierten und des Nervenarztes Dr. Greenwood, der in manischer Liebe zu seiner Patientin entbrennt und ihr sein weiteres Leben widmet, mit den journalistischen Recherchen zu einer seltsamen Mordserie im Umfeld des (von Burlesque-Legende Gypsy Rose Lee geführten) Amüsierschuppens »El Madhouse« (!), wo die genesene (?) Virginia unter dem Namen Yolanda in einer spektakulären Show-(off)-Nummer auftritt. Burnett Guffeys schmuddlig-kontrast­reiche Schwarzweiß-Bilder verleihen der exaltierten Noir-Fantasie die Aura eines leicht unterbelichteten Klassikers; Ekberg (»the stripper who went to far«) bewegt sich (häufig in Begleitung einer imposanten Dogge namens ›Devil‹) wie eine Schlafwandlerin durch die spukhaft-grelle Erzählung, in die tödliche Obsessionen wie dunkle Schatten fallen, und wo die kitschige Porzellanfigur einer schreienden Frau von altem und von neuem Unheil kündet.

R Gerd Oswald B Robert Blees V Fredric Brown K Burnett Guffey M Mischa Bakaleinikoff A Cary Odell S Gene Havlick, Jerome Thoms P Harry Joe Brown, Robert Fellows D Anita Ekberg, Philip Carey, Gypsy Rose Lee, Harry Townes, Romney Brent | USA | 79 min | 1:1,85 | sw | 25. Juni 1958

# 940 | 5. Februar 2015

22.6.58

Kyojin to gangu (Yasuzo Masumura, 1958)

Giganten und Spielzeuge

Yasuzo Masumura verabfolgt der quietschbunten Fratze des japanischen Wirtschaftwunders eine fröhlich schallende Ohrfeige: Die Marketingabteilungen dreier Bonbon-Konzerne (›Giants‹, ›World‹ und ›Apollo‹) kämpfen mit allen Mitteln um die naschhaften Münder der Verbraucher – es wird gelogen und betrogen, es werden Ideen gestoheln und Ideale verraten, man verhöhnt und erniedrigt sich, man spuckt auf die Gräber der Konkurrenz und betrachtet das Publikum als Masse von Idioten (»Sie sind schlimmer als Babys, schlimmer als Hunde!«), deren leere Köpfe allein dazu gut sind, mit den hohlen Phrasen der Werbung gefüllt zu werden. Die frohe Botschaft hat drei Worte: »Kaufen! Kaufen! Kaufen!« Der hyste­rische Pop-Realismus von »Kyojin to gangu« erforscht nicht nur die stampfende Mechanik eines menschenfressenden Konsumismus, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf die bizarren Auswüchse des heraufdämmernden 15-Minuten-Starkults, in dem das Heute immer schon das Gestern von morgen ist.

R Yasuzo Masumura B Yoshio Shirasaka V Takeshi Kaiko K Hiroshi Murai M Tetsuo Tsukahara A Tomoo Shimogawara S Tatsuji Nakashizu P Hideo Nagata D Hiroshi Kawaguchi, Hitomi Nozoe, Yunosuke Ito, Kinzo Shin, Hideo Takamatsu | JP | 95 min | 1:2,35 | f | 22. Juni 1958

6.6.58

Le beau Serge (Claude Chabrol, 1958)

Die Enttäuschten

»Tu n’aimes personne, hein?« – »Bien au contraire, j’aime tout le monde.« François (Jean-Claude Brialy) kehrt nach langer Zeit der Abwesenheit in sein Heimatdorf zurück, um eine Lungenkrankheit auszukurieren. Er begegnet seinem Jugendfreund Serge (Gérard Blain) wieder, der über das Scheitern hochfliegender Pläne und die Totgeburt eines behinderten Kindes zum larmoyant-brutalen Alkoholiker geworden ist. Bisweilen an Bressons glück- und namenlosen jungen Landpfarrer erinnernd, versucht François, ohne auf die eigene angeschlagene Verfassung Rücksicht zu nehmen, dem weigerlichen Gefährten beizustehen, ihm zu helfen, in zu retten. Claude Chabrols Debütfilm (gedreht im kleinen Ort Sardent, wo der Regisseur Teile seiner Kindheit verbrachte) koppelt die symbolisch überhöhte (zweifache) Passionsgeschichte an die illusionslos-realistische Betrachtung der materiell und geistig überaus kargen Lebensumstände in einem abgelegenen Provinznest – eine formale wie erzählerische Divergenz, die das von Henri Decaë mit frostiger Distanziertheit fotografierte Werk gleichermaßen unausgeglichen und doppelbödig wirken läßt.

R Claude Chabrol B Claude Chabrol K Henri Decaë M Emile Delpierre S Jacques Gaillard P Claude Chabrol D Gérard Blain, Jean-Claude Brialy, Bernadette Laffont, Michèle Méritz, Claude Cerval | F | 98 min | 1:1,37 | sw | 6. Juni 1958

# 997 | 6. Mai 2016