31.5.56

Die goldene Brücke (Paul Verhoeven, 1956)

Eine Frau (Ruth Leuwerik) zwischen zwei Männern (Paul Hubschmid und Curd Jürgens) – geschmackvoll inszenierter Illustriertenkitsch in gehobenem Milieu (Motorsport, Industrie, Film) oder Allegorie auf seelische Befindlichkeiten im bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder? Vielleicht beides: Paul Verhoeven findet in der Sülze Ansatzpunkte für eine gleichnishafte Gesellschaftsdiagnose … Tima, Opernsängerin und Schauspielerin, ist verheiratet mit Stefan, einem verunfallten Rennfahrer, der sich larmoyant in seinem Scheitern, in der dunklen Vergangenheit verliert; begehrt wird sie von dem charismatischen Autofabrikanten Balder, der nur für seine Projekte, für die strahlende Zukunft lebt. Einem dehnt sich die Zeit qualvoll ins Unendliche, will nicht vergehen, am anderen rast die Zeit vorbei, vernichtet jedes wirkliche Gefühl. So steht Tima, die Verkörperung der Sehnsucht nach Gegenwart, zwischen der Gefangenschaft im Gestern und der Flucht ins Morgen. Am Ende bietet »Die goldene Brücke« dem Trio kolportagehafte Läuterung: Einer findet sein gehobenes Selbst, zwei finden (wieder) zueinander, und alle drei finden den Überweg ins Heute.

R Paul Verhoeven B Juliane Kay, Werner P. Zibaso V Lajos Zilahy K Werner Krien M Franz Grothe A Max Mellin, Rolf Englert S Gertrud Hinz-Nischwitz P Utz Utermann D Ruth Leuwerik, Curd Jürgens, Paul Hubschmidt, Rudolf Vogel, Adrienne Gessner | BRD | 101 min | 1:1,66 | sw | 31. Mai 1956

19.5.56

The Killing (Stanley Kubrick, 1956)

Die Rechnung ging nicht auf

Von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens wußte schon Brecht ein Liedchen zu singen, und Pascal merkte an, daß Gott zum Lachen zu bringen wäre, indem man ihm von seinen Plänen erzählte. Stanley Kubrick exemplifiziert die Unwägbarkeit aller Vorhaben an minutiöser Vorbereitung und kaltblütiger Durchführung des Überfalls auf den Kassenraum einer Pferderennbahn, ein ehrgeiziges Unternehmen, das nach scheinbarem Triumph auf absurd-verhängnisvolle Weise fehlschlägt ... Angelehnt an John Hustons Noir-Klassiker »The Asphalt Jungle« – und mit demselben Darsteller in der Hauptrolle (Sterling Hayden als Johnny Clay) –, präsentiert »The Killing« die Abläufe des Verbrechens und die daran beteiligten Personen in einer wirkungsvollen Mischung aus dokumentarischem Realismus und fast karikaturesker Überzeichnung: die Erzählung springt spannungssteigernd vor und zurück, der hold-up wird nacheinander aus drei verschiedenen Perspektiven gezeigt, wobei ein schnarrender Kommentar für (theoretische) Übersicht sorgt; aufreizend präzise Zeit- und Ortsangaben kontrastieren mit typisierten Figuren, deren jeweilige Charakterzüge die Handlung in entscheidenden Momenten (zumeist ungut) beeinflussen. Kubricks kalter Blick auf Menschen als Teile eines Puzzlespiels (das sich letztlich nicht zusammensetzen läßt), als Glieder eines Räderwerks (dem Zufall oder Schicksal ins Getriebe greifen) findet seine optische Entsprechung in den häufig verkanteten Einstellungen, in härtestem Schwarzweiß, im extensiven Einsatz von Weitwinkel und Tiefenschärfe. Der Schluß (»Just a bad joke without a punch line.«) liefert ein Beispiel für die finstere Ironie des Regisseurs: ein defektes Kofferschloß, ein aufgeregter Köter, der Luftstrom eines Flugzeugpropellers, und alle Träume werden vom Winde verweht. Der Arglist des Fatums ist nur mit Gleichmut zu begegnen: »Johnny, you’ve got to run!« – »What’s the difference?«

R Stanley Kubrick B Stanley Kubrick, Jim Thompson V Lionel White K Lucien Ballard M Gerald Fried A Ruth Sobotka S Betty Steinberg P James B. Harris D Sterling Hayden, Mary Windsor, Elisha Cook Jr., Vince Edwards, Coleen Gray | USA | 85 min | 1:1,37 | sw | 19. Mai 1956

# 1063 | 19. Juli 2017

17.5.56

Eine Berliner Romanze (Gerhard Klein, 1956)

Eine kleine Geschichte: Junge trifft Mädchen; zuerst kann sie ihn nicht leiden; er läßt nicht locker; sie erliegt seinem forschen Charme. Eine kleine Geschichte, aber sie spielt in einer politisch geteilten Stadt. Berlin, Mitte der 1950er Jahre: Hans (Ulrich Thein) wohnt im Westen, hat keinen Job doch große Pläne im Kopf; Christel (Annekathrin Bürger) wohnt im Osten, lernt Verkäuferin im HO-Bekleidungshaus am Alex, wäre aber lieber Mannequin am Kudamm ... Nach ihrer ersten Zusammenarbeit, dem Jugendkrimi »Alarm im Zirkus«, setzen Regisseur Gerhard Klein und Autor Wolfgang Kohlhaase die Reihe ihrer neorealistisch inspirierten Berlin-Filme mit einer unprätentiösen Romanze fort: lebensnahe Szenen, stimmungsvoll fotografiert, an alltäglichen Schauplätzen, auf Höfen und in Hausfluren, in der Boxarena und im Kino, auf dem Rummelplatz und am Spreeufer. Die besonderen Lebensumstände werden ohne ideologischen Schaum vorm Mund geschildert, wenn auch der Standpunkt der Betrachtung eindeutig ist: drüben Existenzsorgen und falsche Verlockung, hüben Chancen und solidarische Gemeinschaft. Während die abgehärmte Westmutter nur schimpft und zetert, haben die streng-gerechten Osteltern (Erika Dunkelman und Erich Franz – die idealproletarischen Defa-Eheleute) außer gutgemeinten Vorwürfen auch herzliches Verständnis zu bieten. Keine Frage also, wohin der Weg des jungen Paares führen wird: »Miteinander werden sie ihren Platz finden, Uschi und Hans, mitten in unserem Leben, in dem es Arbeit gibt, Kämpfe und Liebe.«

R Gerhard Klein B Wolfgang Kohlhaase K Wolf Göthe M Günter Klück A Karl Schneider S Ursula Kahlbaum P Hans-Joachim Schoeppe D Annekathrin Bürger, Ulrich Thein, Erika Dunkelmann, Erich Franz, Marga Legal | DDR | 80 min | 1:1,37 | sw | 17. Mai 1956

# 1050 | 16. Mai 2017

16.5.56

While the City Sleeps (Fritz Lang, 1956)

Die Bestie

Sarkastisch verknüpft Fritz Lang die Fahndung nach einem psychopathischen Frauenmörder und die Ränke in einem New Yorker Medienkonzern zu einem ironischen Noir-Drama: Nachdem der Chef der Kyne Corporation, ein Pressezar alter Schule, der noch auf dem Sterbebettt knallige Schlagzeilen diktiert, das Zeitliche gesegnet hat, übernimmt dessen blasierter Sohn (Vincent Price) das Ruder und ruft einen Wettbewerb um die Stellung eines executive directors aus: Derjenige der leitenden Mitarbeiter des Unternehmens, der den Kopf des brutalen Killers bringt, soll den begehrten Posten besetzen. Zwischen Menschenjagd und Redaktionskabalen steht Vollblut-Reporter und Pulitzer-Preisträger Ed Mobley (Dana Andrews), der nur seiner journalistischen Moral verpflichtet ist – einer Moral, die es ihm gleichwohl gestattet das Leben der eigenen Freundin zu riskieren, um den gesuchten Verbrecher in eine Falle zu locken. Im gleichmäßigen High-key-Licht seines knochentrockenen Spätwerks beobachtet Lang – durch die gläsernen Wände des Newsrooms und am langen Tresen einer nahegelegenen Kellerbar – das Rattenrennen der Intriganten: Am Beispiel von Gestalten wie dem grobschrötigen Chefredakteurs (Thomas Mitchell), dem gelackten Nachrichtenagenten (George Sanders), der verführerischen Kolumnistin (Ida Lupino) desavouiert »While the City Sleeps« das hehre Ethos der vierten Macht distanziert-genüßlich als eitles Spiel um Rang und Geltung.

R Fritz Lang B Casey Robinson V Charles Einstein K Ernest Laszlo M Herschel Burke Gilbert A Carroll Clark S Gene Fowler Jn. P Bert Friedlob D Dana Andrews, George Sanders, Thomas Mitchell, Ida Lupino, Vincent Price | USA | 100 min | 1:1,85 | sw | 16. Mai 1956

8.5.56

Nuit et brouillard (Alain Resnais, 1956)

Nacht und Nebel

»Premier regard sur le camp: 
C’est une autre planète.« Kein Film über die nationalsozialistische Weltanschauung. Kein Film über Antisemitismus. Ein Film über die industrielle Vernichtung von Menschen. Ein Film über die Mechanik und das Mysterium des Bösen. Dabei kein abstrakter Film ohne historische Verortung. Dabei ein konkreter Film voller erschütternder Details. Keine Dokumentation. Literatur. Keine Reportage. Kunst. 1933. 1942. 1945. Belsen. Dachau. Auschwitz. Die Tat: historische Bilder des Geschehens, schwarz-weiß, Anschauungsmaterial aus einer ewigen Gegenwart, Wachtürme, Züge, Schergen, Todgeweihte, Zyklon B, Berge von Haaren, Köpfen, Leibern. Die Erinnerung an die Tat: Bilder des historischen Ortes, Farbe, langsame gleitende Fahrten entlang der unbegreiflichen Vergangenheit, das Gras zwischen den Schienen, elektrische Zäune ohne Strom, Kratzspuren im Beton, Betten aus Backstein, Latrinen, Öfen, Schornsteine. Und die schreckliche Gewißheit: Jede Straße kann in ein Konzentrationslager führen. Noch. Immer.

R Alain Resnais B Jean Cayrol K Ghislain Cloquet, Sacha Vierny M Hanns Eisler S Alain Resnais P Anatole Dauman, Samy Halfon, Philippe Lifchitz Spr Michel Bouquet | F | 32 min | 1:1,37 | sw & f | 8. Mai 1956

5.5.56

Le mystère Picasso (Henri-Georges Clouzot, 1956)

Picasso

Was geschieht im Kopf eines Künstlers, während er künstlerisch tätig ist? Henri-Georges Clouzot will nichts anderes aufdecken als jenen »mécanisme secret qui guide le créateur dans son aventure périlleuse«. Einem Dichter beim Dichten zuzusehen oder einen Komponisten beim Komponieren, verriete nichts vom Mysterium der Kreativität, ließe nichts ahnen von den gefahrvollen Abenteuern der Imagination – aber einem Maler käme man, vielleicht, auf die Schliche, indem man seiner Hand folgte. »Le mystère Picasso« dokumentiert, wie Bilder von Pablo Picasso entstehen. Die Leinwand des Kinos wird zur Leinwand des Malers. Es sind nicht nur Meisterwerke, die geschaffen werden, der Künstler geht auch in die Irre, verwirft, setzt neu an, tastet sich wie ein Blinder durch das Labyrinth der Möglichkeiten. Clouzot, ausgewiesener Fachmann für Spannungsmechanik, hält sich auffallend zurück. Einmal fordert er den Maler heraus, indem er ihn (sichtbar inszeniert) gegen den Zählwerk der Kamera antreten läßt: »Attention, il te reste deux minutes pour la couleur!« Ansonsten beschränkt er sich auf sachliche Zeugenschaft und dezent ironisches Spiel mit den Möglichkeiten des Mediums. Wenn Picasso ausruft: »Donne-moi une grande toile!«, verbreitert Clouzot die Projektionsfläche auf CinemaScope-Format … Eine anregende Studie des schöpferischen Geistes, ohne Theoretisieren, ohne überflüssiges Beiwerk. Nachdem er gut 20 Bilder gemalt hat, steht der Künstler auf und sagt: »Eh bien, c’est fini.« Der Film ist zu Ende, »Le mystère Picasso« bewahrt sein Geheimnis.

R Henri-Georges Clouzot K Claude Renoir M Georges Auric S Henri Colpi P Henri-Georges Clouzot D Pablo Picasso | F | 78 min | 1:1,37/1:2,35 | sw/f | 5. Mai 1956

# 902 | 17. August 2014

4.5.56

Viele kamen vorbei (Peter Pewas, 1956)

Schon im ersten Bild wird der Mann vorgestellt. Er heißt Reschke. Er ist ein Serienmörder. Entlang der Autobahn erwürgt er junge Frauen, alle vom gleichen Typ, blond, kindlich, nicht ohne Abenteuerlust. Warum Reschke mordet, bleibt ebenso rätselhaft wie die Wahl des Tatortes. »Die Autobahn hat es ihm angetan.« Harald Maresch, ein Darsteller von viriler Hübschheit, spielt Reschke als monströse Spukgestalt, die heimatlos von Verbrechen zu Verbrechen hetzt. Der Film erzählt eine Mordnacht nacheinander aus drei Perspektiven: aus der eines Opfers, einer halbwüchsigen Ausreißerin, die per Anhalter zu ihrem geliebten Freund fahren will, aus der des Täters und aus der des ermittelnden Kommissars; die recht elegante Konstruktion konterkariert Drehbuchautor (und Produzent) Gerhart T. Buchholz indes durch eine penetrante Erzählerstimme, die alles, was von den Schauspielern mit stummfilmhafter Eindringlichkeit gemimt wird, in klobigster Groschenheftsprache verdoppelt und dadurch oft genug unfreiwillig veralbert. Wundersamerweise schaffen es Peter Pewas’ stilisierte Inszenierung und die lyrisch-expressiven Schwarzweiß-Bilder des Kameramannes Klaus von Rautenfeld – mittels unheimlicher Schattenspiele und vorbeihuschender Lichter, ziehender Nebelschwaden und irrer Blicke des Totmachers –, Buchholz’ ehrgeizig-plumpen B-Thriller (zumindest streckenweise) in ein schwarzes Horrormärchen von bezaubernder Naivität zu verwandeln.

R Peter Pewas B Gerhard T. Buchholz K Klaus von Rautenfeld M Peter Sandloff A Alf Bütow S Wolfgang Pflaum P Gerhard T. Buchholz D Harald Maresch, Frances Martin, Christian Doermer, Harald Schimmelpfennig, Alf Marholm | BRD | 85 min | 1:1,37 | sw | 4. Mai 1956

# 971 | 3. Oktober 2015