30.9.48

The Fallen Idol (Carol Reed, 1948)

Kleines Herz in Not 

»You know what happens to little boys who tell lies?« Ein elegantes Stadtpalais bietet den Schauplatz für ein (melo-)dramatisches Spiel um Geheimnis und Betrug, Mißtrauen und Vertuschung – gesehen aus der Perspektive eines 8jährigen Jungen. Phile (Bobby Henrey) wächst als Sohn des französischen Botschafters in London auf. Sein Held ist Baines, des Vaters Butler (Ralph Richardson), der aufregende Geschichten aus seinem früheren Leben in Afrika zu erzählen weiß: ein Hüter menschlicher Wärme in der kalten Welt der Erwachsenen. In Wirklichkeit hat Baines England nie verlassen; er lebt gefangen in der Ehe mit einer herrischen, alle Kindheitsängste inkarnierenden Frau (Sonia Dresdel) und träumt von der Freiheit an der Seite seiner feinfühligen Geliebten (Michèle Morgan). Phile wird in den Strudel der sich zuspitzenden Ereignisse gerissen, von den Großen instrumentalisiert, in ihre Täuschungsmanöver verwickelt, mal zum Mitspielen, mal zum Schweigen vergattert – bis er zwischen Lüge und Wahrheit die Orientierung verliert. »We make one another«, lautet einer der Kernsätze des Drehbuchs von Graham Greene, der keinen Zweifel daran läßt, daß die Menschen mit dieser Herausforderung heillos überfordert sind… Als Ermittler im nicht ausbleibenden Todesfall absolvieren Jack Hawkins und Bernard Lee knapp und sicher konturierte Kurzauftritte; Carol Reed inszeniert sein erstklassiges Ensemble mit gelassener Perfektion. Der eigentliche Star von »The Fallen Idol« ist indes Victor Kordas barock-labyrinthisches Bühnenbild, dessen luxuriös-triste Atmosphäre von Georges Périnal kongenial in verkantete, tiefenscharfe Bilder voller starker Kontraste gefaßt wird. PS: »Shall I tell you a secret?«

R Carol Reed B Graham Greene V Graham Greene K Georges Périnal M William Alwyn A Vincent Korda S Oswald Hafenrichter P Carol Reed, Alexander Korda D Ralph Richardson, Michèle Morgan, Sonia Dresdel, Bobby Henrey, Jack Hawkins | UK | 95 min | 1:1,37 | sw | 30. September 1948

6.9.48

The Red Shoes (Michael Powell & Emeric Pressburger, 1948)

Die roten Schuhe 

»Put on your red shoes and dance.« Michael Powell und Emeric Pressburger verlängern Hans Christian Andersens Märchen über ein Paar roter Schuhe, die nicht mehr aufhören wollen zu tanzen und ihre Trägerin in den Tod befördern, in die synthetische Wirklichkeit ihrer melodramatischen Kinoerzählung: Es geht um die Relation von Kunst und Leben, und es geht um die Macht der Liebe, die – je nach Auffassung – das Fundament für alles Menschenwerk legt oder jeden Schöpfungsimpuls per se entweiht. Der mephistophelische Impressario Boris Lermontov (»Life is so unimportant.« – Adolf Wohlbrück), der Ballett nicht nur als »poetry of motion« betrachtet, sondern wie eine Religion zelebriert, entdeckt für seine weltberühmte Compagnie die vielversprechende Tänzerin Vicky Page (Moira Shearer). Er will sie zur Primaballerina formen und verlangt von ihr Entsagung (gegen das Leben) und Hingabe (an die Kunst) zugleich. Auf seine Frage: »What do you want from life? To live?« antwortet sie: »To dance.« Der Meister ist's zufrieden, sieht sich jedoch ent- und getäuscht, als Gefühle ins Spiel kommen, die seine Kreation an einen jungen Komponisten (Marius Goring) binden – und schließlich ins Unglück stürzen (= tanzen) lassen … »The Red Shoes« versammelt (neben der britischen Tänzerin Moira Shearer in der tragischen Hauptrolle) mit Léonide Massine, dem einstigen Chef-Choreographen der Ballets Russes, Robert Helpmann, der mit der Pavlova und Margot Fonteyn auftrat, und Ludmilla Tchérina, die von Serge Lifar entdeckt wurde, eine Reihe von Ballettgöttern seiner Zeit. Darsteller, die ihren eigenen Mythos einbringen, Jack Cardiffs dynamische Technicolor-Kamera, Hein Heckroths surrealistisch inspirierte Bühnenbilder, der romantische Score von Brian Easdale und (nicht zuletzt) die barocke Leidenschaft der Archers für das Milieu, in dem sie ihre Kunstbetrachtung an siedeln, schaffen eine »Poesie der Bewegung«, deren lyrischer Zauber jeder Mode trotzen wird.

R Michael Powell, Emeric Pressburger B Michael Powell, Emeric Pressburger V Hans Christian Andersen K Jack Cardiff M Brian Easdale A Hein Heckroth S Reginald Mills P Michael Powell, Emeric Pressburger D Moira Shearer, Anton Walbrook (=Adolf Wohlbrück), Marius Goring, Robert Helpmann, Léonide Massine | UK | 133 min | 1:1,37 | f | 6. September 1948