27.11.45

My Name is Julia Ross (Joseph H. Lewis, 1945)

Mein Name ist Julia Ross

»Please, listen to me!« Nach längerer Erwerbslosigkeit ist Julia Ross (Nina Foch) glücklich, eine Stellung als Sekretärin bei einer reizenden älteren Dame (Dame May Witty – die altjüngferliche Geheimagentin aus Alfred Hitchcocks »The Lady Vanishes«) zu finden, und akzeptiert dankbar die Bedingung, umgehend in das Londoner Haus ihrer neuen Arbeitgeberin zu ziehen. Doch am folgenden Morgen findet sie sich in einer einsamen Villa an der Küste Cornwalls wieder, als Gefangene eben jener reizenden älteren Dame und ihres latent aggressiven Sohnes, vor Nachbarn und Dienerschaft als dessen verrückte Ehefrau ausgegeben ... Die B-Variation des in den 1940er Jahren beliebten »paranoid woman’s film« (à la »Rebecca« und »Gaslight«), ein kleiner, feiner gothic thriller, ein elegantes Schauerstück über Persönlichkeitsverlust und (beinahe) tödliche Einsamkeit: Julias Fluchtversuche bleiben ebenso erfolglos wie ihre verzweifelten Anstrengungen, mögliche Helfer von ihrer wahren Identität zu überzeugen. Immer enger zieht sich das Netz der Intrige, immer wieder schließt Regisseur Joseph H. Lewis vor der Protagonistin Türen und Tore, vergittert Ausblicke und Auswege, zeigt lächelnde Niedertracht oder verderbliches Mitleid in den Mienen ihrer Mitmenschen, und noch das Streifenmuster ihres Kleides scheint den Kerker zu symbolisieren, aus dem die bedrohte Heldin erst in letzter Minuten (und nicht ohne männliche Hilfe) entkommen kann.

R Joseph H. Lewis B Muriel Roy Bolton V Anthony Gilbert K Burnett Guffey M M. R. Bakaleinikoff A Jerome Pycha S Henry Batista P Wallace Macdonald D Nina Foch, Dame May Witty, George Macready, Roland Varno, Anita Bolster | USA | 65 min | 1:1,37 | sw | 27. November 1945

# 1082 | 5. Dezember 2017

26.11.45

Brief Encounter (David Lean, 1945)

Begegnung

»I want to remember every minute, always, always to the end of my days.« Eine glücklich verheiratete Frau (energisch-verletzlich: Celia Johnson) trifft im Erfrischungsraum eines Kleinstadtbahnhofs einen anderen Mann (markant-durchschnittlich: Trevor Howard) – und plötzlich ist ihr Leben heller und dunkler zugleich. David Leans ebenso banale wie existenzielle Liebesgeschichte kommt ohne jede emotionale Scharfmacherei aus; interessanterweise ist es gerade das Understatement von »Brief Encounter«, das die Euphorie und die Entscheidungsnot der Liebenden ganz dicht an den Zuschauer heranträgt und aus einer Provinz-Romanze der Zwischenkriegszeit eine zeitlos gültige Erzählung macht. Alles an diesem Film ist geradezu aufreizend konventionell: die Gesichter und die Orte, die Charaktere und die Dialoge. Die Liebe rauscht wie ein Expreßzug durch die friedlich-verschlafene Normalität, es faucht und qualmt und donnert für ein paar unvergeßliche Augenblicke, und dann ist es auch schon wieder vorbei … Zurück bleiben die Ahnung, daß alles ganz anders sein könnte, und die Gewißheit, daß alles so bleibt, wie es immer schon war. »This can’t last. This misery can’t last. I must remember that and try to control myself. Nothing lasts really. Neither happiness nor despair. Not even life lasts very long.« Neben Leans meisterhaft-sensibler Regie bestechen das glaubwürdi­ge Szenarium (Noël Coward), die malerische Kamera (Robert Krasker) und die plastisch gestalteten Nebenrollen (etwa Stanley Holloway als verliebter Stationsvorsteher und Joyce Carey als reservierte Buffetiere). Ein Meisterwerk des melancholischen Realismus.

R David Lean B Noël Coward, David Lean, Ronald Neame, Anthony Havelock-Allan V Noël Coward K Robert Krasker M diverse A Lawrence P. Williams S Jack Harris P Noël Coward D Celia Johnson, Trevor Howard, Stanley Holloway, Joyce Carey, Cyril Raymond | UK | 86 min | 1:1,37 | sw | 26. November 1945

20.11.45

Yolanda and the Thief (Vincente Minnelli, 1945)

Yolanda und der Dieb

Ein bonbonbuntes Wolkenkuckucksheim, ein filmisches Schaumbad in Eskapismus und Kulissenbarock, eine subtropische Fieberfantasie aus dem imaginären lateinamerikanischen Staat Patria: Am Tag ihrer Volljährigkeit wird Yolanda Aquavita (Lucille Bremer) aus der Klosterschule in die Welt entlassen. Die lebensfremde Erbin eines riesigen Vermögens, sehnt sich, eingeschüchtert von den Obliegenheiten einer zigfachen Millionärin, nach der liebevollen Fürsorge ihres himmlischen Schutzengels – eine Rolle, in die der charmante Hochstapler Johnny Riggs (Fred Astaire) nur allzu gerne hineinschlüpft: »You have trouble about money. I shall relieve you of it … the trouble, I mean.« Vincente Minnellis maßlos-synthetisches Musical, ein Paradebeispiel für den More-is-more-Furor der MGM-Traumwäscherei, benutzt das dürre Handlungsgerippe lediglich als Vorwand für das Abfeiern luxuriös-pseudokaribischer Trugbilder in extraordinären Dekorationen. Rauschhafte Höhepunkte der geistesabwesenden Fabel sind zwei überlange Shownummern, eine surreale (Angst-)Traumsequenz und ein opulenter Karneval, irre Kumulationen von Lamas und Sombreros, Tänzern und Komparsen, Schleiern und Konfetti, eingefangen von Charles Roshers beschwipst kurvender Kamera. Das unabwendbar harmonische Finale sieht den falschen Engel märchenhaft geläutert von der engelhaften Einfalt seiner gutbetuchten Beute: »This is a day for love, / this is a day for song. / And all together we will merrily walk along.«

R Vincente Minnelli B Irving Brecher, Jacques Théry, Ludwig Bemelmans K Charles Rosher M Lennie Hayton A Cedric Gibbons, Jack Martin Smith S George White P Arthur Freed D Fred Astaire, Lucille Bremer, Frank Morgan, Mildred Natwick, Leon Ames | USA | 108 min | 1:1,37 | f | 20. November 1945

# 943 | 10. Februar 2015

7.11.45

Detour (Edgar G. Ulmer, 1945)

Umleitung

»How far you goin’?« – »How far YOU goin’?« Gehen die Figuren des Films überhaupt irgendwohin? Oder werden sie getrieben? Vom Schicksal? Vom Zufall? Von ihrer Angst? Von ihrer Gier? Al Roberts (Tom Neal), ein zweitklassiger Pianist, folgt seiner Freundin von New York nach Los Angeles, ein Trip, zu Fuß und per Anhalter, quer über den Kontinent, kein hoffnungsvoller Zug nach dem Westen indes, sondern eine tödliche Verirrung auf der Umleitung des Lebens … Unglückliche Umstände, unglaubhafte Verstrickungen: Al nimmt unterwegs die Identität eines plötzlich verstorbenen betuchten Reisenden an; der Rollentausch wird zum Alptraum, als die fatale Vera (Ann Savage) auftaucht (»Man, she looked as if she'd been thrown off the crummiest freight train in the world.«), die Al erpreßt, seine Vorstellung gewinnbringend fortzusetzen. Der selbstmitleidige Mann mit dem Schmollmund des ewigen Verlierers und die vor (krimineller) Energie vibrierende, sarkastische Frau verstricken sich in ein (latent sadomasochistisches) Endspiel der Bedrohung und Unterwerfung, der Raffsucht und Abscheu, ein Kampf, der keinen Gewinner kennt. Von Edgar G. Ulmer kalt und unromantisch inszeniert, zeigt »Detour« die Welt als endlose Straße durch die Wüste, als fensterloses Zimmer in einer billigen Absteige, als Rutschbahn, die ins Verderben führt: »Fate«, resümiert Al, »or some mysterious force can put the finger on you or me, for no good reason at all.«

R Edgar G. Ulmer B Martin Goldsmith V Martin Goldsmith K Benjamin H. Kline M Leo Erdory A Edward C. Jewell S George McGuire P Leon Fromkess D Tom Neal, Ann Savage, Claudia Drake, Edmund MacDonald | USA | 70 min | 1:1,37 | sw | 7. November 1945

# 778 | 12. Oktober 2013