28.12.45

Scarlet Street (Fritz Lang, 1945)

Straße der Versuchung

Ein schwarzes Kleinbürgerschicksal: Eigentlich ersehnte sich Christopher ›Chris‹ Cross (Edward G. Robinson) ein Leben als Künstler, doch er wurde Sonntagsmaler und Kassierer in einer New Yorker Privatbank. Just an jenem Abend, als ihn der Chef für »25 years of faithful service« mit einer goldenen Uhr belohnt, begegnet der gemüthafte Chris unter einer Hochbahnbrücke in Greenwich Village seinem Verhängnis: Katherine ›Kitty‹ March (Joan Bennett), eine attraktive Straßendirne, die sich als Schauspielerin ausgibt, wird – im Verein mit ihrem geschäftstüchtigen Luden Johnny Prince (Dan Duryea) – den gutgläubigen Schwarmgeist (»Every painting, if it’s any good, is a love affair.«) gnadenlos zugrunde richten. Zu Hause steht Chris unter dem Pantoffel seiner megärenhaften Ehefrau, von Kitty, die er glauben läßt, ein erfolgreicher Maler zu sein, sieht er sich bald schon um alles beraubt und betrogen: um Geld und um Liebe, um seine Kunst und um seinen Erfolg. Mit unbewegtem Blick verfolgt Fritz Lang den fatalen Weg des Protagonisten, der mit einem sehenden und mit einem blinden Auge in die Katastrophe geht. »They’ve got something, a certain peculiar … something«, heißt es vieldeutig über Chris’ Bilder, (die an Werke des Zöllners Rousseau erinnern), »but no perspective.« Bevor er völlig die Übersicht (und die Nerven) verliert, erschafft Chris sein Meisterwerk: das Bildnis der angebeteten (und so verachtungsvollen) Kitty. Er nennt es »Self Portrait«: Kunst als Spaltung und Verdoppelung, als Auflösung und Verschmelzung. Auf den Traum folgt das Erwachen. Auf Desillusion folgt Raserei. Auf Schuld folgt Sühne. Und mag der Mensch sich auch gerichtlicher Verurteilung entziehen, er entgeht nicht der höheren Gerechtigkeit: »No one escapes punishment.« Es sind keine Lichter der Hoffnung, die »Scarlet Street« schemenhaft erleuchten, es ist das Flackern der Hölle.

R Fritz Lang B Dudley Nichols V Georges de la Fourchadière K Milton Krasner M Hans J. Salter A Alexander Golitzen S Arthur Hilton P Fritz Lang D Edward G. Robinson, Joan Bennett, Dan Duryea, Rosalind Ivan, Margaret Lindsay | USA | 102 min | 1:1,37 | sw | 28. Dezember 1945

# 933 | 12. Januar 2015

24.12.45

The Spiral Staircase (Robert Siodmak, 1945)

Die Wendeltreppe

»Anything can happen in the dark.« Ein Neuengland-Städtchen um die Jahrhundertwende. Improvisiertes Kino im Erdgeschoß eines Hotels: »Motion pictures – the wonder of the age«. Eine junge – wie man erfahren wird: stumme – Frau starrt aus dem Dunkel des Saals ergriffen auf die laufenden Bilder. Im Zimmer darüber starrt ein männliches Auge auf eine andere junge – wie man erfahren hat: lahme – Frau. In der glasigen Pupille des Beobachters spiegelt sich das Opfer eines Mordes. Arme ringen hilflos, während eine Etage tiefer der Projektor den Schlußtitel auf die Leinwand wirft: »The End«. Die ersten drei Minuten des Gothic-Dramas etablieren meisterlich (und wortlos) die Motive, die Robert Siodmak in den folgenden anderthalb Stunden virtuos durchspielen wird: Sehen als Lust und Bedrohung, (scheinbare) Schwäche und (vermeintliche) Stärke, beschädigte Körper und invalide Seelen. Helen (Dorothy McGuire), die gedankenverlorene Zuschauerin der Filmvorführung, wegen ihres Defekts das potentielle nächste Ziel eines um Perfektion ringenden Serienkillers, lebt als Gesellschafterin einer spleenigen, bettlägerigen Alten (Ethel Barrymore) in einem architektonisch verwinkelten, menschlich ramponierten, abseits gelegenen Familiensitz – der nach und nach vereinsamt, bis sich der umnachtete Täter und das Objekt seines Wahns Auge in Auge gegenüberstehen. Schauerromantisches Halbdunkel, flackerndes Licht, unersättliche Schatten (Kamera: Nicholas Musuraca) und eine in die Tiefen der Angst hinabführende Wendeltreppe versinnbildlichen eine Heimsuchung, die sich letzten Endes als heilsamer Schock erweist: »It’s I … Helen.« The End.

R Robert Siodmak B Mel Dinelli V Ethel Lina White K Nicholas Musuraca M Roy Webb A Albert S. D’Agostino, Jack Okey S Harry Gerstad, Harry Marker P Dore Schary D Dorothy McGuire, George Brent, Ethel Barrymore, Kent Smith, Elsa Lanchester | USA | 83 min | 1:1,37 | sw | 24. Dezember 1945